BLUTIGE KLAUEN von Arashi

 

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TEIL 1

 

Warum nur? Warum gerade er? Was hatte er ihm getan? Takuto hob seinen Kopf. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, eine Grimasse der Angst. Strähnen seines klatschnassen Haares klebten an seiner Haut. Der Regen prasselte mit unverminderter Wucht auf ihn herab. Izumi zuckte zusammen und rieb sich die Augen, als ein Tropfen hineingeriet. Es sah ja schon fast so aus, als wolle der Himmel ihn strafen. Wofür? Dafür, dass er zuließ, dass Koji sich an ihm austobte und seine Triebe mit Takutos Körper befriedigte? Oder dafür, dass er, so unglaublich und furchtbar es auch klang, tatsächlich nicht nur von dem Sänger abhängig war - sondern ihn anscheinend auch noch liebte?

Er kam nicht von ihm los, ihm wurde schon unwohl, wenn er nur für ein paar Stunden von ihm getrennt war. Und doch... er fürchtete Koji, fast mehr als den Tod.

Wie konnte das Liebe sein? Er stellte sich diese Frage immer öfter. Sie pochte immer eindringlicher an die Pforten seines Geistes.

Zumindest wusste er, dass er Koji nicht auf dieselbe Art liebte wie dieser ihn. Vielleicht war es wirklich nur Abhängigkeit? Der Wunsch nach jemanden, der ihn umsorgte und dem er vertrauen konnte. Vertrauen... Takuto lachte bitter. Er konnte dem Sänger nicht vertrauen. So sehr er es sich auch manchmal wünschte. Aber er hatte gelernt, dass man, sobald man einem Menschen sein Vertrauen schenkte, betrogen und enttäuscht wurde. Es hatte noch nie eine Ausnahme gegeben. Die einzigen Menschen, die er an sich heran ließ, waren Serika und Yuugo. Und auch sie wussten nicht im Geringsten, wie es in seinem Inneren aussah. Eigentlich war es wohl doch eher so, dass sie ihn brauchten.

Warum nur mussten sie ihn alle im Stich lassen? Er wünschte sich nichts sehnlicher, als ein normales Leben führen zu können.

Mühsam richtete Takuto sich wieder auf. Seine Schulter schmerzte, er glaubte noch immer, Kojis Hand darauf zu spüren, wie sie ihn festhielt und brutal herumriss.

Sein Körper brannte, als stünde er in Flammen. Das kam also heraus, wenn er sich einmal weigerte, mit dem Sänger zu schlafen: Er wurde auf grausame Art und Weise genommen.

Warum nur diese Selbstsucht? Was hatte er getan? Nachdem Koji endlich von ihm abgelassen hatte, war Izumi aufgestanden, hatte sich in aller Eile angezogen und war aus der Wohnung gerannt. Er wusste nicht, ob Nanjo versucht hatte, ihn aufzuhalten. Er war viel zu durcheinander gewesen um darauf zu achten. Aber es war ihm egal. Er war keine Puppe, er war niemand, dem man süße Worte ins Ohr flüstern konnte, nur um ihn im nächsten Augenblick zu vergewaltigen.

Takuto zitterte. Es war kalt und nass. Das monotone Rauschen des Regens schien ihn zu verspotten. Zu Recht. Es war dumm, die Schuld bei Koji zu suchen. Er konnte eben nicht aus seiner Haut. Izumi war verantwortlich für das, was man ihm antat. Es war sein Fehler.

Er hätte den Sänger verlassen sollen, schon lange. Er wusste doch um den selbstsüchtigen, schamlosen Charakter Nanjos. Er konnte ihm noch nicht einmal einen Vorwurf machen. Hätte Takuto Kojis Kindheit gehabt, wäre er vermutlich genauso geworden. Vielleicht aber auch ganz anders? Verdammt, solche Gedanken nutzten doch niemandem etwas.

Izumi fuhr mit dem Handrücken seiner Linken über sein Gesicht. Seine Finger waren klamm und gehorchten ihm kaum. Als er gestürzt war, war er mitten in einer Pfütze gelandet. Sein zerrissenes Hemd, das ohnehin schon völlig durchnässt war und dessen Fetzen unangenehm an seiner Haut klebten, war voller Flecken und Schlammspritzer. Heute war nicht sein Tag. Dabei hatte er Geburtstag. Aber was bedeutete das schon? Nichts weiter als ein neuer Tag voller Schmerz in einem Leben voller Angst vor jeglicher Art von Zuneigung.

Takuto spürte, dass Tränen aus seinen Augen hervorquollen. Er schämte sich für seine Schwäche. Warum hatte er Koji vertraut? WARUM? Er würde immer enttäuscht und verletzt werden, wenn er jemandem seine Zuneigung zeigte. Das wusste er. Warum hatte er es also getan?

Es nutzte nichts, wenn er sich den Kopf über Dinge, die unwiderruflich geschehen waren zerbrach. Es fiel Izumi jedoch sehr schwer, seine Gedanken in andere Bahnen zu zwingen. Er brauchte eine Unterkunft für die Nacht. Es dämmerte schon und es wäre unklug, bei dem Wetter im Freien zu schlafen. Er war ja jetzt schon nass bis auf die Knochen.

Wohin sollte er gehen? Zitternd sah er sich um. Wo war er überhaupt? Er war einfach kopflos davongerannt, ohne auf den Weg zu achten.
Er befand sich in einer dunklen, schmalen Gasse. Schmutzige Mauern, von denen der Putz abbröckelte, erhoben sich links und rechts von ihm. Ein paar verrostete Mülltonnen standen hier, aber sie sahen aus, als wären sie seit einer Ewigkeit nicht mehr geleert worden. Eine von ihnen war umgefallen und ihr übel riechender Inhalt hatte sich auf die grob gepflasterte Straße ergossen.

Takuto seufzte resignierend. Er würde sich ganz sicher nicht umdrehen und den Weg, den er genommen hatte, zurücklaufen. Weg. Bloß weg von Koji. Er wusste genau, dass er wieder zulassen würde, dass der Sänger... Dinge mit ihm tat, die er eigentlich gar nicht wollte. Er wurde jedes Mal schwach. So konnte es nicht weitergehen. So würde er sich nur selbst zerstören, dass wusste er.

Was er nicht wusste, war weiterhin die Antwort auf die Frage, wo er übernachten sollte. Izumi fiel in langsamen Trab, in die einzige Richtung, die noch verblieb, wollte er nicht zurückkehren. Der rauschende Fall des Regens verschluckte sogar das platschende Geräusch, das seine Schuhe verursachten, wenn sie das Wasser einer Pfütze in alle Richtungen spritzen ließen.

Serika und Yuugo? Sollte er zu ihnen gehen und dort die Nacht verbringen? Nein. Zumindest seine Schwester würde sofort begreifen, was geschehen war. Diese Demütigung hätte er heute nicht ertragen.

Takuto konnte sogar schon das Ende der Gasse ausmachen. Eine belebte Hauptstraße, wie es schien. Das Licht der Autos und Reklametafeln am Rande der Straße drang bis zu ihm durch, und er glaubte, sogar schon die dazugehörigen Laute zu hören.

Izumi legte etwas an Geschwindigkeit zu. Der Geräuschpegel nahm zu, die Lichter wurden heller. Mit jedem seiner weitaus greifenden Schritte ließ Takuto die graue Gasse mit ihrem Gestank hinter sich zurück. Plötzlich erkannte er die Gegend. Er war schon einmal hier gewesen...damals, als Eri den Sänger mit einem Messer angegriffen hatte... sie waren zu Shibuyas Wohnung gefahren und hatten dort die Nacht verbracht. Er wurde langsamer.

Vielleicht... vielleicht konnte er zu ihm gehen? Selbst auf die Gefahr hin, dass Koji dort auftauchen würde - Katsumi war vielleicht der einzige Mensch, der sowohl seine als auch Nanjos Gefühle respektierte. Er würde ihn nicht verraten... oder? Wenn er eine Lehre aus den letzten Stunden gezogen hatte, dann war es, niemandem zu vertrauen. Aber wenn er nicht zu Shibuya ging, würde er doch im Freien übernachten müssen. Und Takuto hatte in wenigen Tagen ein wichtiges Spiel. Er konnte es sich eigentlich ganz und gar nicht leisten, krank zu werden.

Izumi zögerte nicht länger, er trat mit einem entschlossenen Schritt aus dem dämmrigen Halbdunkel der Gasse hinaus. Einen Augenblick lang genoss er das Gefühl, in ein Meer von Licht und Lärm einzutauchen. Doch dann wurde ihm schlagartig bewusst, dass er nicht allein war.

Hastig zog er den Kopf ein und drängelte sich durch die Menschenmenge hindurch, die auch jetzt - jedoch mit Schirmen in allen möglichen Farben bewaffnet - über die Gehwege wuselten. Ihm war klar, dass er auffallen musste wie der berühmte bunte Hund. Selbst wenn er nicht so schmutzig und erschöpft gewesen wäre - er trug bei dem kalten Wetter nicht mehr als Shorts und ein T-Shirt, das mittlerweile nur noch aus Fetzen bestand, die seinen nackten Oberkörper nicht einmal völlig bedeckten. Doch das konnte ihm jetzt egal sein. Er musste schnell zu Shibuya.

Wo war sein Apartment noch mal? Links von Takutos Standpunkt oder rechts davon? Weder noch. Geradeaus. Izumi atmete erleichtert auf, als er Kojis feuerroten Ferrari vor einem der Häuser vor ihm sah. Katsumi lieh sich den PS-starken Wagen sehr gerne und oft von dem Sänger aus - und zog sich regelmäßig dessen Zorn auf sich, da er nur selten fragte, ob er das rote Geschoss haben durfte.

Hastig sprintete Takuto über die Straße, wich dabei ein, zwei Autos aus, die ihm, zornig hupend, Flüche hinterher riefen. Egal. Wen kümmerten schon ein paar Fremde? Viel wichtiger war, dass Izumi schnell ins Warme kam.

Mit ein paar langen Sätzen war er bei der Haustür angelangt. Sein Finger drückte den kleinen Plastikknopf, auf dem nicht einmal ein Name stand, heftiger als nötig in sein Gehäuse - und ließ ihn auch wesentlich länger als normal darauf ruhen. Schließlich wollte er nicht riskieren, dass Katsumi irgendwie zu der Annahme kam, es handle sich um einen geduldigen Besucher.

„Verdammte Paparazzis, ich habe euch doch schon mal gesagt, dass ich Koji Nanjo weder kenne noch mag!“ fauchte Shibuya mit komisch verstellter Stimme und mit einem Rauschen im Hintergrund durch die Gegensprechanlage. Doch Takuto war nicht zum Lachen zumute. „Ich bin’s.“ murmelte er nur.

Sekundenlang herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Hatte er seine Stimme nicht erkannt? Doch dann räusperte Katsumi sich. „Einen Moment, ich komme und mache dir auf.“

Takuto staunte, in welch kurzer Zeit Shibuya den Weg von seiner Wohnung im ersten Stock bis nach unten zurücklegte.

Er wich automatisch einen Schritt zurück, als die Haustür plötzlich aufgerissen wurde. „Schnell! Komm rein, er ist hier in der Gegend!“ Hastig winkte Katsumi den erschrockenen Izumi herein.

Der Fußballer drängte sich an Shibuya vorbei, dieser knallte die Tür wieder ins Schloss und drehte den Schlüssel zweimal um. „Koji hat angerufen. Ich weiß in etwa, was passiert ist. Er war auch eben bei mir, ich glaube, er ist noch immer hier in der irgendwo.“ fing Katsumi an, noch während er Takuto am Arm packte und einfach hinter sich herzog.

„Hast du vor, mich vor ihm zu verstecken?“ fragte dieser, mit gezwungen gleichgültiger Stimme. Doch innerlich war er wieder ganz und gar aufgewühlt und durcheinander. Koji suchte ihn? Warum? Um ihn wieder nach Hause zu schleppen und ihn noch einmal zu vergewaltigen? Oder um ihn um Verzeihung zu bitten? WIESO? Wieso wurde er einfach nicht schlau aus diesem Mann? Wann würde er endlich verstehen, was in ihm vorging? Wenn es zu spät war? Wenn Koji ihn psychisch völlig zerstört hatte?

„Sieht so aus. Es sei denn, du wolltest es nicht.“ antwortete Katsumi nur. Daraufhin sagte Takuto nichts mehr.

Shibuya schob ihn einfach vor sich her in seine Wohnung und warf die Tür zu. Dann sah er den Fußballer ernst an. „Du willst ihn also verlassen?“

Izumi zuckte mit den Schultern und wich seinem Blick aus. „Ich weiß nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich ihn wirklich liebe. Es wäre wahrscheinlich besser für uns beide, wenn ich ihn nie wieder sehen würde.“

Katsumi nickte ruhig. „Ich glaube auch. Vor allem um dich mache ich mir Sorgen. Schlaf trotzdem erst mal darüber. Kannst hier bleiben, wenn du willst... und duschen solltest du vielleicht auch...“ fügte er mit einem skeptischen Blick auf das, was einmal Takutos Hemd gewesen war, hinzu.

Der Fußballer nickte müde. Er fühlte sich wie zerschlagen. Er fing sofort wieder an zu zittern, als er daran dachte, dass das nicht nur an dem Gewaltmarsch lag, den er hinter sich hatte. Plötzlich sah er auf. „Was hat er gesagt?“

„Koji?“

Er nickte.

Shibuya lächelte matt. „Dass es ihm leid tut natürlich. Er liebt dich wirklich, glaube ich. Und er will dir nicht wehtun. Aber er ist nun mal er und kann nicht aus seiner Haut. Wenn du meinen Rat willst: verlasse ihn! Auch wenn er es hundertmal nicht böse meint, wird er dich irgendwann völlig kaputtmachen!“

Takuto lachte, bitter und humorlos. „Glaubst du, das weiß ich nicht?“

Katsumis Lächeln erlosch. „Warum bleibst du bei ihm? Das ist grausam gegenüber Koji. Und dir schadet es auch nur.“

Izumi antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Er wusste die Antwort ja selber nicht. Er konnte sich noch gut an Shibuyas Worte erinnern:

‚Du solltest Freundschaft oder Mitgefühl nicht mit Liebe verwechseln’

Nein, ganz bestimmt nicht. Es war kein Mitleid, dass er mit Koji hatte. Und auch keine Freundschaft. Was war es aber dann? Selbstsucht? Weil es plötzlich jemanden gab, der ihn liebte? Wollte er das nicht aufgeben? Und wenn es auch das nicht war - konnte es tatsächlich Liebe sein? Wie definierte man dieses Wort? Bedeutete es wirklich, jemandem alles zu verzeihen, sich selbst ganz und gar zu vergessen, nur um den anderen glücklich zu machen? War das Liebe? Was würde er tun, wenn Koji eine Frau treffen würde, die er noch mehr liebte als Takuto? Würde er dann immer noch nicht von ihm loskommen?

Izumi versuchte, sich vorzustellen, was wäre, wenn der Sänger plötzlich Angebote aus dem Ausland bekommen - und annehmen würde. Was würde dann aus ihm Takuto? Würde er ihn gehen lassen? Und ihm alles Gute wünschen?

Nein. Wenn das die wahre Liebe war, dann konnte er auf sie verzichten. Er würde... was? WAS? Was würde er tun? Wenn Koji nicht mehr da wäre... wäre er dann frei? Wenn er nun vor dem Sänger davonlief und ihn nie wieder sähe... konnte er dann endlich wieder ein Leben in Frieden führen? Wenn... vielleicht... das alles waren doch nur Hypothesen. Niemand konnte ihm sagen, was er tatsächlich tun würde.

Plötzlich wurde Takuto abrupt aus seinen Gedanken gerissen.

„Hier. Ein paar Handtücher und etwas frisches zum Anziehen.“ Katsumi lächelte aufmunternd und deutete mit dem Kopf auffordernd auf den Stoß Wäsche in seinen Armen.

So was. Izumi hatte gar nicht bemerkt, dass Shibuya den Raum verlassen hatte.

Er nickte wortlos und nahm den Stapel entgegen, dann schlurfte er in Richtung Badezimmer. Katsumi hatte sogar schon den Wasserhahn aufgedreht. Der dampfend heiße Strahl ergoss sich leise plätschernd in die Badewanne. Takuto zog sich schnell aus und stieg vorsichtig in die Wanne.

Das Wasser umschloss seinen geschundenen Körper wie eine warme, weiche Decke. Izumi seufzte leise, ihm rann ein wohliger Schauer den Rücken herab. Er ließ sich tiefer, bis zur Nasenspitze, in die Wanne sinken. Für eine kleine Weile konnte er Koji und seine widersprüchlichen Empfindungen für den Sänger endlich vergessen. Ein Gefühl von Frieden ergriff Besitz von ihm, es war ein ehrliches Gefühl, dem er sich nur zu gerne hingab.

Plötzlich klingelte es.

Takuto erstarrte. Er gefror innerlich förmlich zu Eis. Dennoch spürte er, deutlicher als alles andere, wie sein Herz wie ein fremdkörperartiger Klumpen hart und zugleich schnell, wie ein Vorschlaghammer in seiner Brust schlug.

Koji.

Koji, es war KOJI!!!

Es konnte nicht anders sein. Er war hier. Er war hier um ihn zu holen. Er hatte ihn gesehen, wie er Shibuyas Haus betreten hatte. Und nun wollte er ihn holen. Ihn zwingen, zu ihm zurückzukehren. Um sein Spielzeug nicht zu verlieren?

Takuto geriet in Panik. Er zitterte heftig, obwohl das Wasser, das ihn umgab, heiß und dampfend war. Was sollte er jetzt tun? Seine Kleider. Wo waren seine Kleider? Izumi stieg leise, aber hastig aus der Wanne, trocknete sich nur notdürftig ab und zwängte sich in aller Eile in die zerrissenen Sachen. Leider war kein Wunder geschehen, das sein Hemd wieder geflickt hätte, aber ein paar Fetzen waren besser als nichts. Denn selbst wenn Koji gekommen war, um um Verzeihung zu bitten - Takuto wusste, wie wenig der Sänger sich unter Kontrolle hatte. Und das war das Letzte, was er jetzt brauchte: eine Vergewaltigung in Shibuyas Wohnung.

Izumi zitterte noch heftiger als zuvor. Es war kalt. Und er hatte Angst. Was sollte er nur tun? Wie sollte er jemals frei und unbeschwert leben können, wenn ihm ständig das Bild Kojis vor seinem geistigen Auge erschien?

Er drückte sich angstvoll in die äußerste Ecke des Badezimmers und starrte zur Tür, in der Erwartung, jeden Moment den Sänger hereinstürmen zu sehen.

Eine Zeitlang hörte er nichts. Doch plötzlich wurde die Tür aufgerissen und Katsumi sprang herein. Als er Takuto sah, zitternd und in eine Ecke gekauert, erstarrte er. „Großer Gott... was hat er nur getan...“ murmelte er, jedoch so leise, dass der Fußballer ihn nicht hören konnte. Dann gab er sich einen Ruck. „Koji ist hier.“ sagte er schnell. „Willst du ihn sehen?“

Izumi brachte es nur zu einem eiligen Kopfschütteln.

Shibuya nickte. „Das habe ich mir gedacht. Verhalte dich ganz ruhig, ok?“

Er wartete erst gar nicht die Antwort ab, sondern riss sich hastig das Hemd vom Leib, trat kurz entschlossen zur Wanne und tauchte seinen Kopf einmal unter Wasser. Dann legte er sich ein Handtuch über die Schultern und verschwand wieder aus dem Badezimmer. Takuto hatte ihm schweigend und mit leicht gerunzelter Stirn dabei zugesehen, aber nichts gesagt. Er zwang sich, ruhiger zu atmen und spitzte die Ohren. Was hatte Katsumi vor??

Eine Zeitlang hörte er gar nichts. Vermutlich war Shibuya hinuntergegangen, um die Haustür aufzuschließen.

Dann ertönte Kojis dunkle, weiche Stimme. Izumi erschauerte. Wie sehr er diesen Klang fürchtete. Wie sehr er ihn liebte. Er erinnerte sich an Hisayas Worte... ‚Liebe ist nur ein Fieber’

Wenn das stimmte... was phantasierte er und was war real? Liebte er den Sänger? Oder hasste er ihn aus tiefstem Herzen? Wenn er ihn liebte - wieso lief ihm schon ein eisiger, unangenehmer Schauer über den Rücken, wenn er nur an seine Berührungen dachte? Und wenn er ihn hasste - warum vermisste er ihn dann schon, wenn er nur ein paar Stunden von ihm getrennt war?
Und warum stellte er sich immer wieder dieselbe Frage? Warum?

„Koji... was machst du denn schon wieder hier? Hast du ihn gefunden?“ Katsumis Stimme klang leicht genervt. “Und was machst du dann noch hier?“ grollte er gleich darauf.

„Ich weiß nicht mehr weiter, Shibuya.“ Takuto hörte Schritte, ganz eindeutig Kojis schwerer und gleichzeitig anmutig wirkender Gang. Er versuchte sich vorzustellen, was dort draußen geschah.

Einen Augenblick später das Knarren von Katsumis Holzstühlen.

„Lass ihn, Koji. Du hast ihn schon genug zerstört.“ antwortete Shibuya nüchtern, aber auch ein wenig leiser, so dass Izumi Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen - was vermutlich auch so beabsichtigt war.

„Ich weiß. Aber was soll ich tun? Ich verliere einfach die Beherrschung.“

„Verlass ihn. Das ist barmherziger. Und besser für euch beide, glaub mir.“ Bei diesen Worten zog sich Takutos Herz schmerzhaft zusammen. Doch sofort grämte er sich deswegen. Verdammt, Katsumi hatte doch recht! Er hätte hoffen müssen, dass Koji im zustimmen würde, statt fast in Tränen auszubrechen!

„Ich kann es nicht. Ich würde es gerne für ihn tun, aber ich liebe ihn zu sehr.“ Die Stimme des Sängers wurde leiser und ein wenig brüchig. „Warum gibt es so etwas wie Liebe, wenn es die Menschen solch schreckliche Dinge tun lässt? Ich will ihm doch nicht wehtun. Alles was ich will ist, dass er glücklich ist.“

„Koji, wie soll dir das jemand glauben? Du vergewaltigst ihn, fügst ihm Schmerzen zu... du zerstörst ihn, Stück für Stück!“ Shibuya wurde nun doch lauter, er schien vergessen zu haben, dass Takuto ihn hören konnte. „Der Junge bräuchte auch so schon Hilfe, ohne deine phantastischen Versuche, ihn völlig zu Grunde zu richten!“ fauchte Katsumi aufgebracht. Izumi hörte wie versteinert zu. Eigentlich war das alles nichts neues für ihn, tief in seinem Unterbewusstsein vergraben war das Wissen, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Doch bisher hatte er es nicht an sich herangelassen, immer gehofft, es noch alleine zu schaffen... irgendwie...

„Verdammt, glaubst du, das weiß ich nicht?“ polterte Koji. „Ich habe nicht die Kraft dazu, mich von ihm zu trennen! Du müsstest mir schon ein Messer ins Herz rammen! Ich habe versucht, ihn so wenig wie möglich zu belasten, ihm stundenlang zugehört! Ich will ihm helfen, glaub mir! Dafür würde ich alles tun!“ Der Sänger machte eine Pause. In gemäßigterem Ton fuhr er fort: „Aber immer wieder flackert diese Angst in seinen Augen auf. Angst vor mir. Egal was ich tue, er vertraut mir nicht. Und das ist meine Schuld.“ Koji lachte bitter. „Er wird mir immer fern sein, egal mit welcher Kraft ich ihn an mich reiße.“ Er zögerte wieder, Shibuya schwieg ganz und hörte nur zu, wie es schien. Vermutlich war er auch nervös, da er wusste, dass Takuto alles mithörte. Koji... Izumi musste sich zusammenreißen um nicht laut herauszuschreien: ‚WARUM? Warum nimmst du mich dann gegen meinen Willen? Wenn du mich liebst - warum bist du dann so grausam?!’

„Nein. Ich habe nachgedacht. Du hast recht. Du hast wirklich recht, Shibuya.“ Kojis Worte klangen schleppend, als koste es ihn große Mühe, überhaupt weiterzusprechen. „Deshalb werde ich jetzt gehen. Das muss ein Ende haben. Sayonara, Shibuya.“

„Du...!“

“Folge mir nicht.”

Leb wohl, Izumi. Es tut mir leid, dass ich dir soviel Schmerzen bereitet habe. Aber ich werde nie wieder die Gelegenheit dazu haben, vertraue mir. Takuto zuckte heftig zusammen. Er hatte Kojis Stimme in seinem Kopf so deutlich gehört, als stünde er neben ihm.

Instinktiv sprang er auf. Er hatte noch nicht richtig begriffen, was der Sänger mit seinen Worten gemeint hatte, doch ein anderer Teil von ihm, der absolut gar nichts mit Vernunft zu tun hatte, übernahm einfach die Kontrolle über seinen Körper.

Takuto stürzte zur Tür, riss sie auf und stürmte an Shibuya vorbei, der ihn gar nicht beachtete, sondern nur völlig schockiert Nanjo hinterher sah, der jedoch schon verschwunden war.

Ohne nachzudenken, hastete Izumi in den Hausflur und jagte die Stufen hinab. Koji drehte sich erstaunt um, seine Augen weiteten sich verblüfft, als er seinen kleinen Geliebten erkannte, nur wenige Sekundenbruchteile, bevor Takuto ihm weinend um den Hals fiel. „Nein! Nein, das darfst du nicht tun! Du darfst es nicht tun!“ schluchzte er und umschlang den kräftigen Körper des Sängers mit beiden Armen. Er spürte, dass Koji in sanft an sich drückte. Was tat er da?? Noch vor wenigen Minuten hatte er sich gewünscht, ihn nie wiedersehen zu müssen, und jetzt warf er sich ihm in die Arme? „Doch. Ich muss, Izumi. Solange ich lebe, kannst du nicht glücklich werden.“

„Doch! Ich kann! Du wirst es sehen, wir werden es schaffen!“ rief Takuto. Waren das seine Worte? Izumi wusste nicht, was mit ihm geschah, plötzlich brach alles aus ihm heraus. „Ich lasse nicht zu, dass du gehst! Du hast gesagt, dass du mir überallhin folgen würdest, dass du mich niemals allein lassen würdest!“ Izumi drehte den Kopf und sah den Sänger vorwurfsvoll an. Dieser lächelte sanft. „Ich weiß. Aber wenn ich bei dir bleibe, wirst du an meiner verfluchten Liebe zugrunde gehen.“

„Schwachsinn! Du hast doch nur Angst, dich auf eine wirkliche, echte Beziehung einzulassen!“ protestierte Takuto.

Kojis Lächeln erlosch. Die Worte hatten ihn verletzt. Doch Izumi dachte gar nicht an eine Entschuldigung. „Lügner!“ warf er ihm an den Kopf. Und bevor er wusste, was er tat, hörte er sich sagen: „Ich weiß nicht, ob ich dich so liebe wie du mich! Aber ich empfinde etwas für dich! Und du willst mich verlassen, obwohl du immer gesagt hast, dass du mich ewig lieben wirst? Lügner!“ Wirklich? War das wirklich so? Hatte er andere Gefühle als Angst und Hass oder Freundschaft für ihn? Es fiel ihm so unendlich schwer, daran zu glauben. Vielleicht, weil das bedeutet hätte, dass er sich so lange selbst belogen hatte?

„Izumi...“ Der Sänger nahm Takuto liebevoll in die Arme und presste ihn fest, aber dennoch vorsichtig an sich. „Es tut mir leid.“ murmelte er und vergrub sein Gesicht an der Schulter des Fußballers. Es tat gut. Es tat so gut, die Wärme von Kojis Körper zu spüren, seinen Atem auf der Haut zu fühlen...

„Lass uns nach Hause gehen.“

Nanjo nickte nur.

Shibuya, der die beiden vom Treppenabsatz aus beobachtet hatte, schüttelte verzweifelt den Kopf, während er ihnen nachsah und das Geräusch ihrer Schritte langsam schwächer wurde und schließlich ganz verebbte.

Wohin sollte das führen? Sie kamen nicht voneinander los. Selbst wenn sie sich mehr als alles andere liebten - hier ging es doch schließlich um zwei vernünftige Männer! Man sollte doch meinen, dass man in diesem Alter wusste, was gut für einen war und was nicht!

Wie konnte diese Liebe eine Zukunft haben? Niemand akzeptierte sie. Der Leibwächter, den Koji ohne Takutos Wissen angeheuert hatte, hatte schon mehr als einen Anschlag verhindern können. Und dabei waren Hirose und Akihito noch eher friedlich, im Gegensatz zu den aufgebrachten Fans des Popstars.

Und schließlich ging es nicht nur um die Probleme, die sie mit ihrer Umwelt hatten - diese verzweifelt verlangende Liebe zerfraß sowohl Nanjo als auch Izumi. Sie waren beide völlig am Ende.

Shibuya hatte Koji während ihres Gespräches sehr aufmerksam beobachtet. Oberflächlich betrachtet machte er denselben Eindruck wie immer, auch wenn er leicht gestresst zu sein schien. Doch hin und wieder flackerte ein beunruhigendes Feuer in seinen Augen auf. Es war der reine Wahnsinn, der durch die Fassade der Normalität schimmerte.

Diese Geschichte würde noch ein böses Ende nehmen, das wusste Katsumi.

Was machte er eigentlich hier? Er hatte sich geschworen, nie wieder zu ihm zurückzukehren. Warum war er dann hier? Warum war er in dieser Wohnung? Warum lag er hier auf diesem Bett? Und...warum...spürte er Kojis heißen Atem auf seiner Haut? Takuto wusste es nicht. Er wusste nicht, was er wollte. Er wusste gar nichts mehr, nicht einmal genau, was er noch vor zwei Sekunden gedacht hatte. Aber war das denn wichtig? Was sollten diese Überlegungen? Er konnte sich doch nun einfach aufrichten und Nanjo von sich herunter stoßen, wenn er wollte. Aber er tat es nicht. Er ließ es sich weiterhin gefallen, von ihm voll feuriger, verbotener Leidenschaft geküsst zu werden. Kein Quadratzentimeter auf seiner Haut schien sicher vor der sanften, aber dennoch gierigen Berührung Kojis Lippen. Izumi war sich noch nicht ganz sicher, ob ihm das, was der Sänger mit ihm tat, gefiel oder nicht. Er fragte sich, ob er auch jetzt nur das wehrlose Opfer spielte oder es mit aller Macht wünschte, von dem Sänger genommen zu werden. Nichts war sicher, nichts hatte Bestand. Sein Leben war ein einziger Scherbenhaufen und es gelang Takuto nicht, ihn zu kitten.

Izumi zuckte zusammen, als Koji zärtlich seine Narbe küsste. Er geriet in Panik. Nein! Nicht dort...! Hör auf! Ich will das nicht! Er bekam kaum noch Luft und sein Herz schlug so schnell, das es zu zerspringen schien. Und obwohl alles in ihm danach schrie, auf den Sänger einzuschlagen, beobachtete Takuto sich selbst voller Erstaunen dabei, wie er sich vorsichtig aufrichtete und, seine Hände in Kojis langem, seidigen Haar vergraben flüsterte: „Weiter...hör nicht auf...“

Nanjo hob den Kopf und sah ihn erstaunt an. Der Ausdruck seiner Augen verwirrte Izumi. Voll düsterer Leidenschaft, zugleich jedoch ehrlich und aufrichtig.

Takuto verstand sich selbst nicht mehr, als er die Hand unter Kojis Kinn legte und seinen Kopf sanft anhob. Was tat er da? Entsetzt stellte er fest, dass sein Gesicht sich dem des Sängers langsam näherte. Warum...? Hatte er keine Kontrolle mehr über sich selbst? Warum tat er das? Sein Herz schien auszusetzen, als sich ihre Lippen berührten. Ein Schauer durchlief seinen Körper, als Koji sich etwas aufrichtete und ihn mit sanfter Gewalt an sich presste. „Ich liebe dich, Izumi.“ Die weiche Stimme des Sängers klang brüchig und vielleicht auch ein wenig hoffnungsvoll.

„Ich liebe dich auch.“ Takuto blinzelte verblüfft. Was hatte er gerade gesagt? Wieso hatte er das getan? Nun würde Koji sich Hoffnungen machen. Aber war das so unberechtigt? Wenn ja...warum fühlte er sich auf einmal zu unglaublich erleichtert? Warum lächelte er, als er sah, dass ein feuchter Schimmer in Nanjos Augen verriet, wie nahe ihm diese vier Worte gegangen waren? Nun war es aber genug! Entschieden verdammte er solche Gedanken und seine ganzen Zweifel aus seinem Kopf. Endlich. Endlich hatte er es gesagt. Wie war er nur auf die Idee gekommen, seinen Verstand benutzen zu wollen bei der Frage, die ihm schon so lange auf der Seele brannte: „Liebe ich Koji Nanjo?“. Er hätte von Anfang an sein Herz entscheiden lassen sollen. Aber zum Glück war es noch nicht zu spät, sich bei dem Sänger zu entschuldigen.

Und das tat er.

Sehr ausgiebig.

Bis die aufgehende Sonne, die durch die Fenster schien, sanft seine nackte Haut streichelte.

Takuto hob den Kopf und blinzelte vorsichtig. Er war erfüllt von einer schweren, angenehmen Müdigkeit. Izumi sah auf den noch schlafenden Koji neben ihm herab. Sein Blick glitt bewundernd über dessen muskulösen Körper. Ein fast ehrfürchtiger Schauer durchlief seinen Körper, als die Erinnerung an seine Berührung in ihm aufstieg. Noch nie hatte es ihm so sehr gefallen, mit dem Sänger zu schlafen wie in dieser Nacht. Mit einem leisen Seufzer ließ er sich zurück in das Kissen sinken. Am liebsten wollte er Koji wecken und dort weitermachen, wo sie heute morgen bei Sonnenaufgang aufgehört hatten, doch er tat es nicht. Auch wenn er selbst nicht ganz verstand, warum. Es war ohnehin alles schon verwirrend genug für ihn.

Plötzlich klingelte das Telefon. Der schrille, unnatürliche Laut in der Stille des Morgens ließ Nanjo erschrocken hochfahren. Leise vor sich hinfluchend sprang Takuto aus dem Bett und hastete zum Telefon. Er nahm den Hörer ab und warf einen Blick zurück auf Koji. Der Sänger rieb sich verschlafen die Augen und schien ein wenig orientierungslos. Izumi lächelte, doch dann wurde er bewusst, dass er schon eine ganze Weile den Hörer in der Hand hielt, ohne etwas zu sagen. Hastig meldete er sich.

„Izumi-kun. Hol Koji ans Telefon. Sofort.“ Der Fußballer fuhr erschrocken zusammen. Diese kalte, gefühlslose Stimme...Hirose!?

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TEIL 2

Takuto starrte den Hörer an wie eine giftige Schlange. Koji, der verwirrt die Stirn runzelte, stand langsam auf. Während er sich müde aus den Decken kämpfte und näherschlurfte, beschlich ihn ein leises Gefühl von Sorge. Er warf Izumi einen vielsagenden Blick zu, als er dem zur Salzsäule erstarrten Fußballer den Hörer aus der Hand nahm. Unfreundlich knurrte er: „Ja?"

Dann wurde Koji blass. Takuto beobachtete ihn ängstlich. Was wollte der älteste Nanjo von seinem Freund? Warum rief er hier an? Er hatte seinen jüngeren Bruder doch immer gemieden wie die Pest!

Der Sänger streifte Izumi mit einem beunruhigten Blick. Der Fußballer begann nun, sich ernstlich Sorgen zu machen. Koji sagte kein Wort, er lauschte einfach nur den Worten seines Bruders. Und die Blicke, die er Takuto zuwarf, häuften sich. In seinen Augen war jedes Funkeln erloschen, sie wirkten kalt und leer. Ging es etwa...um ihn? Nein, dann wäre der Sänger nicht so ruhig geblieben. Drohte Hirose ihm?

Ganz instinktiv griff Izumi nach Kojis Hand. Der Sänger lächelte matt und deutete einen Kuss an. Schließlich nickte er und murmelte: „Ja. Ich habe verstanden." Dann legte er den Hörer auf. Nein, ein passenderer Ausdruck wäre: Er knallte den Hörer wuchtig auf die Gabel. „Widerlicher Bastard..." grollte er. Dann drehte er sich mit einem Ruck um und ging zurück zum Bett. Er bückte sich nach seinen Kleidern und zog sich hastig an.

„Koji!"

Nanjo knöpfte in aller Seelenruhe sein Hemd zu und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. „Ich muss zu Shibuya. Ich weiß nicht, wann ich wiederkomme. Wird wohl spät werden."

Takuto schüttelte den Kopf. „Was wollte Hirose von dir?" fragte er ungeduldig.

„Nichts besonderes." Koji lächelte aufmunternd und warf einen Blick in den Spiegel. Er griff nach seiner Tasche und seinem Mantel, dann hauchte er noch einen Kuss auf Izumis Wange, bevor er nach dem Schlüssel fischte, der auf dem Tisch lag.

„Dann werde ich heute Abend erst um zehn Uhr-"

Die Haustür wurde zugeknallt.

„...Essen machen..." Takuto starrte verwirrt die Stelle an, wo Nanjo eben noch gestanden hatte. Er hob die Hand und berührte flüchtig seine Wange. Dann erwachte er aus seiner Erstarrung. Was fiel dem Kerl eigentlich ein? Ihn einfach so zu übergehen? Verdammt, diese Nacht war etwas besonderes gewesen, warum musste er alles kaputtmachen?! Wütend stampfte er zum Telefon und wählte Shibuyas Nummer. Er war sich sehr wohl bewusst, dass er Katsumi vermutlich aus dem Bett klingelte, aber er tröstete sich damit, dass alles besser war, als einen halben Herzinfarkt zu bekommen, weil Koji zu faul war, den Finger wieder von der Klingel zu nehmen. Während er darauf wartete, dass Shibuya sich meldete, beschlichen ihn wieder Zweifel. Nun hatte Nanjo ihn da, wo er wollte. Er hatte sich ihm ganz und gar hingegeben. War er heute morgen deshalb so seltsam gewesen? Hatte er nur sehen wollen, wie weit er einen Mann bringen konnte? War das alles nur ein übler Scherz gewesen? Nun war einer der seltenen Momente, da Takutos Herz derselben Meinung war wie sein Verstand: Nämlich dass das Blödsinn war. Vermutlich hatte Hirose seinen Bruder in große Schwierigkeiten gebracht und jetzt mussten erst einmal ein paar Dinge geklärt werden.

Aber Izumi musste einfach irgendwem die Schuld für seine Laune in die Schuhe schieben. Koji hatte ihn völlig verwirrt und sein Innerstes gründlich auf den Kopf gestellt. Hatte er die letzte Nacht wirklich erlebt? Oder war es bloß ein Traum gewesen? Wie hatte er sich dem Sänger nur so gänzlich öffnen können? Nein, er hatte sogar mehr getan. Normalerweise ließ er Nanjos Liebkosungen einfach nur über sich ergehen – zugegeben, meistens genoss er es. Aber nie zuvor hatte er selbst die Initiative ergriffen. Takuto fröstelte. Langsam ging er zum Schrank und nahm sich einen Bademantel heraus, dabei wählte er bewusst den von Koji. Er wickelte sich fest in den weichen Stoff und schloss die Augen. Izumi genoss es, den unverkennbaren Duft seines Geliebten, der dem Gewebe anhaftete, einzuatmen. Wie seltsam er sich plötzlich benahm. Gestern Abend noch war er blindlings davon gestürmt, ohne Ziel, alles war recht gewesen, Hauptsache er konnte Nanjos Nähe meiden.

Und nun sehnte er sich wie ein verliebtes Mädchen nach einer Umarmung Kojis, die soviel Geborgenheit und Schutz versprach. Er nannte ihn sogar schon in seinen Gedanken ‚Geliebter'.

Aber auch wenn sein Leben Takuto im Augenblick wundervoll und sicher erschien – tief in ihm hatte eine kleine Alarmglocke begonnen zu schrillen, seit dem Moment, in dem er sich Koji in die Arme geworfen hatte um zu verhindern, dass er ihn verließ.

Er tat alles, um den aufsteigenden Gedanken nicht an sich herankommen zu lassen, doch es gelang Izumi nicht. Er lautete: ‚Was wird er tun, wenn du dich ihm wieder verweigerst?' Diese quälende Frage geisterte in seinem Kopf herum, aber er fand keine Antwort darauf. Würde Nanjo ihn ein weiteres Mal vergewaltigen um seine Triebe zu befriedigen? Würde er ihm das tatsächlich antun? War er wieder dazu fähig? Alle Kraft wich aus Takutos Knien, er sank zu Boden. Er machte sich nicht einmal die Mühe, den Sturz mit den Händen abzufangen. Statt dessen krallte er sie noch fester in den weichen Stoff, der ihn umgab.

Egal, was er fühlte. Wenn Koji ihm das noch einmal antat, konnte er Izumi nicht wirklich lieben. Er fasste einen schweren Entschluss. Sobald Nanjo wieder mit ihm schlafen würde, musste er sich ihm verweigern. Diese Entscheidung fiel Takuto alles andere als leicht. Er hatte Angst vor der Reaktion des Sängers. Er wollte ihn nicht verlassen. Aber wenn Koji ihn einfach nahm, blieb ihm keine andere Wahl, wenn er jemals ein normales Leben führen wollte.

Izumi straffte sich. Er glaubte doch an die Liebe seines Freundes! Dann musste er auch versuchen, ihm zu vertrauen! Und wenn Nanjo alles nur tat, um mit Takuto Sex haben zu können, dann war er es nicht wert! War es nicht das, was er immer hörte, wenn sich die Mädchen über ihre Freunde unterhielten?

Der Fußballer hatte nie sehr lange über solche Dinge nachgedacht. Aber es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, dass ein solcher Beschluss so unglaublich schwer fiel.

Erst, als ihn ein monotones Tuut-Geräusch ihn aus seinen düsteren Gedanken riss, wurde Izumi klar, dass Shibuya, ehe er schließlich aufgelegt hatte, schon eine ganze Weile in den Hörer gebrüllt hatte. Egal. Er würde einfach auf den Sänger warten. Es war Sonntag, also fiel die Schule aus. Und Training...ach, das fiel heute ja sowieso flach. Dafür hätte er eigentlich zur Arbeit gemusst. Aber vielleicht rief Nanjo ja an, um sich nach ihm zu erkundigen? Dann wollte er auf jeden Fall hier sein. Seufzend stand Takuto auf und ging ins Bad, um zu duschen. Im Gegensatz zu vorhin schwitzte er nun wie ein Tier, auch wenn er es sehr bedauerte, Kojis Geruch abwaschen zu müssen.

Doch auch, als er schon unter der Dusche stand und das heiße Wasser an seinem Körper herunterlief, ließ ihn die Sorge um Nanjo keine Ruhe. Warum hatte Hirose ihn angerufen? Warum hatte der Sänger ihm ruhig und ernst zugehört, anstatt ihn zum Teufel zu wünschen?

Takuto hob den Kopf, schloss die Augen und ließ das Wasser direkt auf sein Gesicht herunterprasseln. Er strich eine schwarze Strähne seines Haares zurück und tastete nach dem Hahn. Langsam drehte er ihn nach links, bis das Wasser fast kochte. Doch das störte ihn nicht. Der Schmerz ließ ihn ein wenig das vergessen, was Hirose ihm angetan hatte. Wenn Koji nicht gekommen wäre...Izumi begann zu zittern, jedoch nicht vor Kälte. Damals, als Hisaya ihn fast... vergewaltigt hatte. Manchmal wachte er nachts auf, mit einem Schrei auf den Lippen. Dann schloss ihn Nanjo sofort in die Arme und tröste ihn, küsste ihn, bat um Verzeihung, küsste ihn wieder...Takuto hatte nie den Mut aufgebracht, im die Wahrheit zu sagen – nämlich, dass Koji schon lange nicht mehr der Grund für seine schlaflosen Nächte war... es war Hisaya. Obwohl er lange nicht so weit gegangen war wie der Sänger...

Izumi drehte die Temperatur noch etwas höher. Er biss sich auf die Lippen, um nicht zu schreien. Dennoch blieb er weiterhin unter dem kochendheißen Wasserstrahl stehen. Jeder einzelne Tropfen biss sich mit schier unerträglicher Hitze in seine Haut. Doch er blieb stehen. Er brauchte nur einzuatmen, schon stieg ihm der Geruch Hisayas in die Nase. Takuto schloss die Augen. Sofort sah er Kunihide vor sich. Er biss sich verzweifelt auf die Lippen. So schlimm war es schon lange nicht mehr gewesen. Der Fußballer hatte gehofft, den Verrat seines Freundes überwunden zu haben. Doch es sah ganz danach aus, als litte er noch immer an den Erinnerungen.

Als nicht einmal die Pein, die ihm das heiße Wasser bereitete, half, schloss er mit einem leisen Seufzer den Hahn und griff nach einem Handtuch und schlang es sich um die schmalen Hüften. Wie sehr er sich nach Kojis starken Armen sehnte... er wollte bei ihm sein, jetzt! Doch so sehr er sich nun auch wünschte, eine weitere - beinahe - schlaflose Nacht an die vorhergegangene zu hängen...er musste sich an seinen Vorsatz halten, Nanjo diesmal nicht zu geben, was er wollte. Aber eines stand fest: das würde er nicht mehr als einmal durchhalten.

Takuto wischte mit einer Hand über den beschlagenen Spiegel und warf einen Blick hinein. Er sah schrecklich aus. Sein Gesicht war rot und verquollen, seine Augen waren blutunterlaufen und brannten. Izumi nahm das Handtuch von seinen Hüften und rubbelte so fest über seine Haut, dass es schmerzte. Was war heute nur mit ihm los? Fand er denn keine andere Möglichkeit mehr, mit seinen Problemen fertig zu werden, als sich Schmerzen zuzufügen? Aber eigentlich war ihm das egal, denn es half. Mit zusammengebissenen Zähnen ging er ins Schlafzimmer und nahm sich Wäsche aus dem Kleiderschrank. Während er sich anzog, überlegte er, was er tun konnte, um sich die Zeit zu vertreiben, bis Koji heimkam.

Ihm fiel jedoch partout nichts ein, also schnappte er sich seinen Fußball. Auch wenn es nicht seinem Beschluss von vorhin entsprach, schnappte er sich seinen Schlüssel vom Tisch und ging zur Tür.

Ein paar Minuten konnten nicht schaden. Nanjo vermutete wahrscheinlich sowieso, dass er bei der Arbeit war. Eigentlich zählte Takuto ganz und gar nicht zu der Sorte Mensch, die sich vor so etwas drückten, aber heute war er eh zu durcheinander um sich auf seine Pflichten zu konzentrieren.

Ein wenig zu spät bemerkte Izumi, dass es leicht regnete. Sollte er schnell umkehren und eine Jacke holen? Ach was, es war doch nicht kalt. Nur ein bisschen nass.

Takutos Laune begann sich zusehends zu bessern. Sein Gesicht wirkte nicht mehr grau und verbittert, in seinen Augen loderte wieder jenes Feuer, das Koji so verzaubert hatte.

Izumi machte einen tiefen Atemzug und genoss das Gefühl, die feuchte Luft in seine Lungen strömen zu lassen. Langsam setzte er sich in Trab, ließ den Fußball fallen und dribbelte ihn vor sich her. Zum Trainingsplatz der Schule war es nicht sehr weit, vielleicht ein, oder zwei Kilometer. Takuto machte jeden Schritt, jeden Atemzug, einfach jede noch so kleine Bewegung bewusst und mit Freude. Eine große Last schien von ihm genommen zu sein.

Erstaunt bemerkte er, dass er schon fast da war. Die Zeit war verflogen wie wenige Wimpernschläge. Sein Atem ging schnell und sein Herz schlug kräftig und lebendig in seiner Brust. Niemand war auf dem Platz, wie erwartet. Leichtfüßig setzte er über eine Bank hinweg und lief zum Tor. Auch wenn niemand bei ihm war, der die Bälle abwehren konnte – er konnte trotzdem ein bisschen üben.

Mit aller Kraft trat er die Lederkugel, die in hohem Bogen ins Tor flog und vom Netz gehalten wurde. Schlamm spritzte hoch und Takuto lachte glücklich, während er sich mit einem Ärmel nachlässig durch sein Gesicht wischte. DAS war Leben!

Er lief zum Ball und trieb ihn vor sich her, zum anderen Tor. Ein gezielter Schuss und das Ding saß! Und so ging es weiter, immer von einer Seite zur anderen. Izumi verschwendete keinen Gedanken daran, dass seine Kleidung nach wenigen Minuten schon von oben bis unten voller Dreck und zudem noch klatschnass war – denn aus dem leichten Nieselregen war mittlerweile ein halber Wolkenbruch geworden. Außerdem hatte er gerade geduscht...

Aber das alles störte ihn nicht. Das einzige, was er wahrnahm, war der Ball, eine schwarz-weiß gefleckte Kugel, und die Pfosten, die das Tor begrenzten. Mehr nicht. Das reichte aus. Schuss um Schuss versenkte er, ohne auf seine Umgebung zu achten. Er wusste nicht, wie oft er schon zugetreten hatte und wie oft er dem Ball nachgejagt war. Er schnappte sich die Lederkugel und raste, sie immer vor sich hertreibend, wieder zur anderen Seite. Ein dunkler Schatten baute sich drohend vor dem Tor auf. Takuto dachte nicht weiter darüber nach, er wurde etwas schneller, knurrte wütend – und schoss. Die hochgewachsene Gestalt sammelte sich und angelte den Ball mit einem katzenhaften Sprung aus der Luft, doch sie verlor das Gleichgewicht. Bevor sie hart auf dem Boden aufschlagen konnte, rollte sie sich zusammen und kam nach einer Rolle geschickt wieder auf die Beine.

Izumi schnappte nach Luft. Dann kam er endlich dazu, genauer hinzusehen – es war Koji! Er lächelte sanft und kam näher. Sein schwarzer Mantel sah zwar nicht genauso schrecklich aus wie Takutos Kleidung, doch er war dafür wesentlich teurer.

„Was...machst du denn schon hier?" fragte der Fußballer verblüfft.

Nanjo blieb nur einen Meter von ihm entfernt stehen und lachte vergnügt. „Schon? Wann hattest du denn mit mir gerechnet? Mitternacht?"

Izumi hob verwirrt den Kopf. „Aber wie...?!" sagte er hilflos, als er feststellte, dass die Sonne schon seit einer geraumen Weile untergegangen sein musste. Es regnete nicht einmal mehr. Nun verstand er auch, warum er den Sänger nicht sofort erkannt hatte. Koji sah ihn lächelnd an. „Ich wusste doch, dass ich dich hier finde. Ich hab mir ganz schön Sorgen gemacht, als du nicht zu Hause warst!"

Takuto kam nicht dazu, sich zu entschuldigen, denn plötzlich zog Nanjo ihn an sich und küsste ihn zärtlich. Izumi schnappte erschrocken nach Luft, doch dann lachte er leise. „Ich wollte eigentlich da sein, wenn du kommst." Er schlang seine Arme um Koji und sah ihn auffordernd an. Der Sänger tat zwar nicht das, was er sich von ihm erhofft hatte, aber er drückte Takuto fest an sich. Der Fußballer lehnte seinen Kopf an Nanjos Brust an und genoss es, die Wärme des Körpers seines Geliebten zu spüren, seinen unverkennbaren Duft einzuatmen...und einfach bei ihm zu sein.

Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, die kleine Alarmglocke seines Geistes schrillte ein wenig eindringlicher, doch darauf hatte er schon lange genug gehört. Und was hatte es ihm eingebracht? Nichts, nur Ärger und Sorgen!

„Koji...?" Ob er ihm eine Antwort geben würde?

„Mhm?" machte Nanjo.

„Was hat Hirose dir heute morgen gesagt?"

Der Sänger lächelte. „Ich war nicht grad freundlich zu dir. Tut mir leid. Ich war so wütend auf Hirose, weil er Shibuya Pro. in ziemliche Schwierigkeiten gebracht hat."

„Schon gut." wehrte Takuto ab. „Was zum Teufel hat er denn nun angestellt?!"

Koji winkte ab. „Ach, es geht um Geld, ein Grundstück und ´ne Menge Papierkram."

Izumi sah ihn erschrocken an. Sein Freund tat ja gerade so, als wäre das eine Kleinigkeit! „Aber Shibuya Pro. wird doch nicht dichtmachen, oder?"

Nanjo schüttelte den Kopf. „Nein, jedenfalls nicht sofort. Hirose hat ihnen noch eine Frist gewährt, bis dahin müssen sie ein hübsches Sümmchen gezahlt haben."

„Und was wollen sie jetzt machen?" Das war typisch für die Nanjo Brüder. Egal wie, sie versuchten anscheinend immer, irgendwem auf den Wecker zu gehen.

Koji zuckte gleichgültig mit den Achseln. Interessierte ihn das alles denn überhaupt nicht? Takuto löste sich von ihm und hob seinen Ball auf, den der Sänger hatte fallen lassen. „Lass uns gehen." sagte er leise und wandte sich um.

Nanjo nickte und folgte ihm. Er wollte seinen Arm um Izumi legen, doch der Fußballer wich aus. Er wusste, dass er Koji damit vor den Kopf stieß, aber er musste schließlich auch irgendwann einmal begreifen, dass er Takuto nicht immer haben konnte, wann er wollte. Schweigend trottete er neben Izumi her. „Was ist los?" fragte er plötzlich. Was los war? Er wusste es doch selber nicht. Wenn er versuchte, sich einzureden, dass er wütend war, weil Nanjo so ein so gleichgültiges Verhalten an den Tag legte, dann belog er sich selbst. Aber was war es dann? Verdammt...der Kerl machte ihn total verrückt. So beließ er es bei einem Schulterzucken und etwas, das sich mit ein wenig Phantasie wie „Nix." anhörte.

Doch Koji reichte das nicht. „Also bitte! Das kannst du mir nicht erzählen."

Takutos Augen funkelten wütend. „Ich habe doch gesagt, es ist nichts!"

Nanjo überhörte das einfach. „Habe ich etwas falsches gesagt?"

In Izumi stieg auf einmal eine heiße brodelnde Wut auf, die kein bestimmtes Ziel hatte, und sich einfach über Koji entlud. „Verdammt! Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?! Ich habe schlechte Laune!" schnauzte er seinen Freund an.

Koji senkte betroffen den Kopf. „Verzeih mir. Ich habe mir nur Sorgen gemacht."

Takutos Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, als er Nanjo so sah. Er war wohl etwas zu hart gewesen. Dabei hatte er den Sänger gar nicht so anfauchen wollen. Er wusste nicht, was los war. Er sollte sich entschuldigen. Aber irgendwie hatte er nicht so recht die Kraft dazu. Er fasste sich an den Kopf. „Ich habe Kopfschmerzen." grummelte er.

Sofort war Koji bei ihm und legte ihm die Hand auf die Stirn. Erschrocken rief er: „Du hast schon wieder Fieber!"

Takuto zuckte mit den Achseln. Das konnte sein. Er fühlte sich unwohl, ihm war heiß – und das lag ganz eindeutig nicht an Nanjos Nähe.

„Verdammt!" fluchte der Sänger leise. Ohne Umschweife zog er seinen Mantel aus und legte ihn Izumi um die Schultern. „Warum nimmst du dir auch keine Jacke mit!"

„War doch warm." erwiderte Izumi. Jetzt, wo Koji es sagte, fühlte er sich tatsächlich krank. Für einen Moment wurde ihm sogar schwarz vor Augen. Er streckte instinktiv die Hand aus, griff aber ins Leere. Als er wieder klar sehen konnte, wusste er auch, warum: Nanjo trug ihn auf seinen Armen. Was war nur los mit ihm? Ihn konnte doch sonst nichts so leicht erschüttern! „Du bist ja bescheuert." murmelte er.

Koji lächelte, doch es gelang ihm nicht, den besorgten Ausdruck aus seinem schönen Gesicht zu vertreiben. „Wieso denn das? Weil mein teurer Mantel so aussieht, als hätte ich ihn durch eine Schlammpfütze geschleift oder weil ich ihn einem total verdrecktem Fußballass übergezogen habe?" fragte er. Ein vergnügtes Glitzern lag in seinen Augen, während er das sagte.

Takuto schüttelte den Kopf. „Willst du mich etwa den ganzen Weg tragen?"

Genießerisch leckte Koji über Izumis Lippen. „Warum denn nicht?"

„Ah...! Elender Lustmolch!" keuchte der Fußballer. „Wenn du dich bei mir ansteckst, mach bloß nicht dafür verantwortlich!"

Nanjo lachte. „Was kann ich denn dafür, dass du wie die personifizierte Sünde aussiehst!" verteidigte er sich. Doch er bekam keine Antwort mehr. Takuto hatte sich an Kojis Brust gekuschelt, die Arme um dessen Hals geschlungen. Er schlief. Der Sänger blickte besorgt auf seinen Geliebten herab. Was war nur los mit ihm? Er war noch nie so einfach zusammengebrochen wie vorhin. Er musste ihn schnell nach Hause bringen. Izumi gehörte sofort ins Bett!

Koji setzte sich vorsichtig, um Takuto nicht zu wecken, auf die Bettkante. Zärtlich strich er ihm eine nasse Haarsträhne aus der Stirn. Izumis Atem ging unregelmäßig, seine Brust hob und senkte sich in heftigen Stößen. Dieser Anblick zeriss Nanjo fast das Herz. Behutsam nahm er einen feuchten Lappen und tupfte damit die Schweißperlen von Takutos Stirn. 40, 1° Fieber...der Arzt war schon lange wieder weg, zusammen mit Koji hatte er Izumi in ein Eisbad gesteckt. Daraufhin war seine Temperatur zum Glück etwas gesunken... auf 39,5° immerhin.

Der schlanke Körper zeichnete sich deutlich unter der dicken Decke ab. Nanjo schämte sich für die Erregung, die ihn trotz Izumis Krankheit befiel. Er war einfach verboten schön. Takuto zitterte. Seine Hand krallte sich unkontrolliert in das Bettlaken. Er fror. Seine Zähne schlugen klappernd aufeinander. Koji zog seine Schuhe aus, hob die Decke hoch und legte sich neben seinen Freund. Sanft schloss er ihn in die Arme. Ihm war es egal, ob er sich dabei selbst ansteckte oder nicht. So konnte er Izumi mit seinem eigenen Körper wärmen...tatsächlich hörte er wenigstens auf, mit den Zähnen zu klappern.

„Du...bist und bleibst...ein Lustmolch..." flüsterte Takuto plötzlich und lächelte matt. Der Sänger grinste frech, aber er konnte die Sorge um seinen Freund nicht ganz vertuschen. „Na und? Stört dich das?"

„Nur wenn...du dich ansteckst. Dann muss ich dich...ja pflegen." Izumi spürte Kojis warmen Atem an seinem Hals. Spielerisch biss ihm Nanjo ins Ohr. „Ich werde schon nicht krank."

Takuto schloss die Augen wieder und drehte sich zu dem Sänger. Mit einem zufriedenen Seufzer auf den Lippen bettete seinen Kopf auf dessen Brust. Er mochte dieses Gefühl. Wenn er Koji so nahe war wie jetzt, dann fühlte er sich so geborgen...sein letzter Gedanke, bevor er wieder einschlief war, dass er das genießen sollte, solange er konnte. Auch wenn es schien, als könne dieses Glück ewig währen – er wusste genau, dass das nicht stimmte. Irgendjemand, vielleicht sogar sie selbst, würde dieses Trugbild sicher bald wieder zerstören.

Warum war jeder winzige Moment des Glücks von solchen Zweifeln überschattet?

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TEIL 3

„...mi! Izumi! Izumi, wach auf!" Eine weiche, leicht aufgeregte Stimme drang undeutlich in Takutos Bewusstsein. Sie rief immer wieder seinen Namen. Doch er wollte nicht die Wärme und die Geborgenheit verlassen, in der er sich befand. Warum versuchte jemand, ihm dieser friedliche Welt zu entreißen?

Obwohl er noch weit davor entfernt war, wach zu sein, spürte er Hände auf seinem Körper. Jemand schüttelte ihn unsanft. Vielleicht würde er ihn in Ruhe lassen, wenn er kurz erwachte. Dann konnte er ja immer noch weiterschlafen und zurückkehren in dieser wunderbare, ruhige Traumwelt. Die Stimme brüllte nun, sie wirkte sehr aufgeregt und hektisch. Izumi machte langsam die Augen auf und sah an sich herunter. Ein Schrei entfuhr seiner Kehle. Ein silberhaariger Dämon beugte sich über ihn und griff mit seinen krallenbewehrten Händen nach ihm. Erschrocken riss er die Hände vors Gesicht um sich zu schützen. Er sah direkt in ein paar unheimlicher, in blauem Feuer glühender Augen. Die Stimme, die ihm seltsamerweise bekannt vorkam, rief etwas, das er nicht verstand. Er achtete nicht weiter auf sie, sondern kroch hastig rückwärts, als das Ungeheuer immer näher kam und seine blutigen Klauen nach ihm ausstreckte. Takuto begann, unkontrollierte Schreie auszustoßen und wild um sich zu schlagen. Unter normalen Umständen wäre er einfach weggerannt. Verdammt...was war nur los?! Es schien, als sei sein Bewusstsein in Watte gepackt. Er hatte Schwierigkeiten, überhaupt einen Gedanken zu fassen. Und irgendwie konnte er sich noch nicht einmal auf die Gefahr vor ihm konzentrieren.

Plötzlich lichtete sich der Schleier über seinem Bewusstsein ein wenig. Ein Dämon??

So ein Blödsinn. Izumi nahm die Hände herunter und ... vor ihm saß das ‚Ungeheuer'. Mit langen, silberblonden Haaren, mordlustigen Augen, einem ehrfurchtgebietenden Körperbau... Takuto hätte sich selbst ohrfeigen können. Toller Dämon. Einer, der sogar singen konnte. Wenigstens wusste er endlich, wem die Stimme gehört hatte, die unablässig seinen Namen gerufen hatte. „Koji...was ist los?"

Das Monster starrte ihn eine Sekunde lang an, dann streckte er die Arme aus und drückte Izumis schlanken Körper an sich. „Alles ist gut..." murmelte er. Wie? Was sollte denn das jetzt werden?!

Takuto löste sich vorsichtig von dem Sänger und legte fragend den Kopf schief. Das hätte er besser nicht getan. Ein rasender Schmerz fuhr durch seinen Schädel, als hätte man ein glühendes Messer hineingerammt. Er fuhr heftig zusammen und biss sich auf die Lippen. Er versuchte, das Ganze zu überspielen, doch sein Gesicht musste seinen Schmerz widerspiegeln, denn Koji fuhr sofort auf und rief erschrocken: „Takuto! Ist alles in Ordnung? Was ist los?!"

„Nur ein bisschen Kopfweh." beruhigte dieser und massierte mit Zeige- und Mittelfingern seine Schläfen.

„Warum hast du mich geweckt?" Man sah dem Sänger an, dass diese Antwort ihn ganz und gar nicht zufrieden stellte, doch er antwortete: „Du hast geschrieen und um dich geschlagen."

Ach? Bevor oder nachdem er von Koji geweckt worden war?

Izumi seufzte. Er ließ sich in das weiche Meer aus weißen Kissen zurücksinken und schloss die Augen. Doch es gelang ihm nicht, die Erinnerung an den wunderbaren Traum wieder in sein Gedächtnis zu rufen. Verflucht...dabei war es so schön gewesen...und vor allem – sein Schädel hatte sich nicht so angefühlt, als wäre er auf das doppelte seiner normalen Größe angeschwollen. Und er sollte im Schlaf geschrieen haben? Unmöglich.

„Izumi..." drang Kojis Stimme erneut zu ihm durch. „Kann ich etwas für dich tun?"

Ja. Ihm den Traum zurückgeben. Trottel. Immer machte er alles kaputt. Takutos Laune hatte inzwischen ihren absoluten Nullpunkt erreicht. Er öffnete die Augen und schubste Nanjo kurzerhand aus dem Bett. „Ach ja, wo du schon aufgestanden bist, kannst du mir was zu trinken holen. Und schau mal nach der Post." grollte er unfreundlich.

Vermutlich hatte er damit wieder einen Streit vom Zaune gebrochen. Doch ganz gegen seinen Erwartungen sagte Koji nichts, sondern erhob sich wortlos, mit versteinerter Miene, und verließ das Schlafzimmer.

Er wusste nicht, warum er so etwas sagte. Das konnte man als unfair und reichlich unverschämt bezeichnen. Doch Takutos schlechtes Gewissen hielt sich in Grenzen. Zwar pochte immer noch die Frage, was zum Teufel eigentlich in ihn gefahren war, warum er Nanjo gegenüber so unfreundlich gewesen war, an die Pforten seines Bewusstseins, aber er gewährte ihr keinen Einlass.

Izumi stöhnte leise und ließ sich wieder zurücksinken. Was waren das nur für Kopfschmerzen?! Und was war gestern überhaupt passiert? Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war, dass Koji ihn nach Hause getragen hatte. Aber warum? Takutos Augenlider wurden schwer und er nickte immer wieder kurz ein. Wie lange brauchte der Sänger eigentlich dafür, schnell nach der Post zu sehen und ein Glas Wasser zu holen?!

Es dauerte noch eine geraume Weile, bis er die schlurfenden Schritte Nanjos auf dem Parkettboden hörte. Die Tür zum Schlafzimmer wurde vorsichtig aufgestoßen. Koji kam herein, er versuchte sich anscheinend gerade als Jongleur: auf der rechten Hand balancierte er ein Tablett, Takuto konnte jedoch von seiner Position aus nicht erkennen, was darauf war, mit der Linken trug er einen Stapel Briefe.

Izumis schlechtes Gewissen begann sich wieder zu regen, als er erkannte, was der Sänger ihm brachte: nämlich ein herrlich duftendes Frühstück und Tee hatte er auch noch gekocht. Aber sollte er sich jetzt entschuldigen? Nein...wenn der Kerl nicht gewesen wäre, hätte er jetzt keine Kopfschmerzen.

Koji hatte zu seinem sanften, liebenswürdigen Lächeln zurückgefunden und ließ sich auch durch Takutos giftigen Blick nicht aus der Ruhe bringen.

„Magst du was essen?" Nanjo hauchte Izumi einen Kuss auf die Wange und setzte das Tablett auf dessen Schoß ab. Na toll. Essen...dabei war ihm schon auch so schon schlecht genug...aber er konnte Koji nicht schon wieder vor den Kopf stoßen, auch wenn ein Teil von ihm es gerne wollte. Er nickte nur und griff nach der Tasse Tee. „Was sind das für Briefe?" wollte er wissen. Das heiße Getränk rann wohltuend seine Kehle hinab. Nanjo zuckte mit den Schultern und murmelte etwas von „Fans".

Doch dann fischte er einen Umschlag aus dem Stapel heraus und reichte ihn mit den Worten „Für dich." an Izumi weiter. Mit gerunzelter Stirn las Takuto den Absender.

Italien? Doch nicht etwa...! Hastig riss er den Brief mit zitternden Händen auf und überflog die Zeilen. Tatsächlich...

Er warf Koji einen nervösen Blick zu, doch dieser schmökerte unbeeindruckt in seiner Post, vermutlich eh alles Lobeshymnen auf seinen Gesang und sein Aussehen. Narzisst. Aber wenigstens schien er nicht bemerkt zu haben, von wem Izumis Brief stammte. Was sollte er nun tun? Er las die Nachricht noch einmal. Er hatte bis Ende des Monats Zeit, sich zu entscheiden. Gut. Das war wenigstens etwas.

Plötzlich seufzte Nanjo, stand auf und warf seine Post unbeeindruckt in den Mülleimer. „Ich muss weg. Ich komme erst heute Abend wieder, ist das ok?"

Takuto sah ihn verwirrt an. „Sicher. Aber wohin willst du denn?"

Koji lächelte geheimnisvoll. Was führte er im Schilde? „Zu Shibuya Pro. eine neue Single aufnehmen." verkündete er und griff nach seiner Jacke. Seine Miene war gleichgültig, unbewegt, als hätte er eben gesagt, er müsse noch etwas einkaufen.

Izumi starrte ihn an. „Was?!"

„Ich fange wieder mit dem Singen an. Ach übrigens, ich schicke dir heute Mittag den Arzt vorbei, damit er nach dir sieht." Ohne ein weiteres Wort verließ er das Schlafzimmer. Takuto war noch viel zu perplex um zu reagieren. Er fing wieder mit dem Singen an? Aber wieso auf einmal? Verwirrt setzte Izumi die Tasse an die Lippen und nippte an dem heißen Getränk. Er verstand die Welt nicht mehr. Wieso wurde er einfach nicht schlau aus dem Kerl? Er spürte, dass sein Herzschlag sich drastisch erhöht hatte. Er leckte sich nervös über die Lippen und las seinen Brief ein drittes Mal. Italien...sie wollten ihn immer noch. Und das, was sie ihm bezahlen wollten...eine unvorstellbare Summe. Wie kamen sie bloß dazu? Sie hatten doch gesehen, dass er den italienischen Spielern unterlegen war. Es nützte nichts, wenn er sich darüber unnötig den Kopf zerbrach. Koji hatte er schon längst vergessen, als er aufstand, sich in die Decke hüllte und zum Telefon wankte. Der Boden, den er unter seinen nackten Füßen spürte, war eiskalt. Verdammt, wieso hatte Nanjo nicht die Heizung angestellt?! Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er den Stand der Quecksilbersäule des Thermometers an der gegenüberliegenden Wand zu entziffern. 23° C! Wieso fror er dann so erbärmlich?!

Doch Takuto hatte jetzt andere Sorgen. Er griff nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer, die auf dem Brief angegeben war.

„Izumi?" Keine Antwort. Er schlief wohl noch. Koji warf seine Jacke achtlos über einen Stuhl und legte den Schlüssel auf den Tisch. Der Tag war anstrengend gewesen. Er verstand sich selbst nicht mehr. Warum tat er das eigentlich? Man hatte ihn nicht einmal darum gebeten! Es war sogar seine Idee gewesen, wieder für Shibuya Pro. zu arbeiten. Nanjo versuchte, diese Gedanken zu verscheuchen. Takuto war krank. Er brauchte jetzt seine Pflege und seine Liebe. Leise ging er zum Schlafzimmer und öffnete die Tür. Zu seiner Überraschung saß Izumi auf dem Bett, den Kopf gesenkt, seine rabenschwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht. Vor ihm lag ein Stapel Papiere, die er sehr konzentriert las. Kojis Atem ging schneller, als er Takuto so im Schneidersitz sah, mit seiner kurzen Hose und dem offenen Hemd, das seine nackte Brust entblößte. Takuto sah erstaunt auf, als Nanjo das Zimmer betrat. „Oh! Ich hab dich gar nicht kommen gehört!" lautete seine Begrüßung.

Koji lächelte. „Macht ja nichts." Er legte den Kopf schief und deutete auf die Papiere vor Izumi. „Was ist das?" wollte er wissen.

Das Herz des Fußballers machte einen erschrockenen Sprung. Er setzte ein harmloses Lächeln auf und packte die Formulare schnell in die Schublade des Nachttisches. „Ach nicht so wichtig." log er. Ihm wurde heiß. Konnte der Sänger seinen Herzschlag, wild und unregelmäßig, hören? Er musste doch das leichte Zittern seiner Stimme bemerken...spüren, wie nervös er war! Doch Koji nickte nur. Nahm er an, es wäre ein Brief von...nein, das konnte nicht sein, von wem hätte er Post bekommen sollen? Was sollte er aber sagen, wenn Nanjo nachhakte? Takuto suchte fieberhaft nach einer passenden Ausrede, doch der Sänger wurde plötzlich ernst und ging wortlos zu Izumi. Mit sanfter Gewalt drückte er ihn in die Kissen und deckte ihn zu. „Du bist krank. Schon dich lieber." riet er ihm.

Der Fußballer lächelte schwach. Sein schlechtes Gewissen regte sich. Aber er musste es tun. Er hatte nur diese eine Chance. Es ging um seine Zukunft.

„Hast du Hunger?" fragte Koji. Dieser Ausdruck in seinen Augen...wie sehr er sich doch verändert hatte. Der kalte, eisige Blick war in den Tiefen dieser beiden leuchtenden, blauen Sterne versunken und schon lange nicht mehr an die Oberfläche gekommen. Takuto nickte und antwortete, wenn auch etwas verspätet:

„Lass was kommen. In der Küche liegt irgendwo die Telefonnummer vom Pizzadienst." Er griff nach einer langen, seidigen Haarsträhne und spielte damit. Auf dem schönen, ebenmäßig geformten Gesicht seines Freundes zeichnete sich ein verwunderter Ausdruck ab. „Wieso denn das?"

Verstand er denn gar nichts? Izumi erinnerte sich unwillkürlich daran, dass es gar nicht stimmte, was er eben gedacht hatte. Es lag gar nicht so lange zurück, dass der „silberhaarige Dämon" ihn mit seinen Blicken zutiefst verletzt hatte. Vielleicht hatte er in seinem Fieberwahn sein wahres Ich gesehen. Ein eiskalter Schauer durchlief seinen schlanken Körper. Er sah sie vor sich, diese langen, zu Krallen geformten Finger, wie sie langsam zu Klauen wurden, sich in sein Fleisch bohrten. Er konnte sich nicht wehren, er war wie gelähmt, spürte, wie sich die langen, spitzen Zähne des Dämons in seinen Körper gruben, ihn aussaugten, ihn leiden ließen...blutbeschmierte Hände überall an seinem Körper, den heißen Atem des Todes an seinem Hals. Er konnte nicht schreien, nicht atmen, nur stillhalten und seinen Körper zerfleischen lassen. Nur darauf hoffen, endlich diesen Foltern zu entgehen, endlich sterben zu dürfen...er sah leuchtende, blaue Augen vor sich, die ihn anstarrten, die Freude daran hatten, ihn leiden zu sehen. Gierig verging er sich wieder und wieder an Takuto, griff in seine Brust, hielt sein Herz in bloßen Händen, blutigen Klauen. Es wurde zerrissen, in kleine Stückchen, bis in jede einzelne Zelle hinein. Izumi entfuhr ein heiserer Schrei, eher der eines Tieres denn dem eines Menschen. Er fuhr hoch und schlug nach dem Dämon, doch er konnte ihn nicht erreichen, seine Faust war zu langsam, als wäre die Luft erfüllt von einem seltsamen Gelee, das ihn in seinen Bewegungen behinderte. Doch das schien nur für ihn zu gelten, eine Faust, viel größer als die seine, schnellte auf ihn zu und traf ihn mit voller Wucht im Gesicht. Takuto stieß einen weiteren, erstickten Schrei aus und führte eine Hand an seine Lippen. Er blutete, und er hatte sich auf die Zunge gebissen. Er spürte, dass ein dünner, roter Faden aus seinem Mundwinkel, sein Kinn hinab und über seinen Hals lief, doch er bekam nicht die Gelegenheit, es weiter zu beachten, denn über ihm schwebte groß und bedrohlich der Körper seines Peinigers. Er konnte nichts mehr klar erkennen, ein roter Schleier trübte seinen Blick, doch, so absurd es auch war, er sah das Gesicht dieses Ungeheuers ganz klar. Der Ausdruck seiner brennenden Augen, weder triumphierend noch reuevoll, voller Hass und gleichzeitig so liebevoll, dass es Izumi innerlich zerriss. Seine sinnlichen Lippen, ein wenig geöffnet und blutig von den vielen Malen, die Takuto ihn gebissen hatte. Doch er schien keinen Schmerz zu spüren. Je mehr sein Opfer litt und schrie, desto unbesiegbarer und unempfindlicher wurde Koji. Der schlanke Körper wurde durch die Wucht eines weiteren Schlages in die Kissen geprügelt.

Warum er?

Warum??

Es war nicht das erste Mal, dass er sich diese Frage stellte. Genauer genommen: sie quälte ihn pausenlos.

Ob es wohl einen Gott gab? Wenn ja, dann war er anders, als die Menschen ihn sich vorstellten. Wenn er solche Dinge zuließ, dann konnte er nicht gütig und sanft sein. War die Welt und die Menschen mit ihren verfluchten Schicksalen nicht mehr für ihn als ein Spiel?

Takuto stöhnte leise und wartete darauf, dass Nanjo ihn weiter demütigte. Eine Stimme drang an sein Ohr, es war das erste Mal seit...wie viel Zeit war vergangen? Minuten? Oder Stunden? Auf jeden Fall war es lange her, seit er das letzte Mal etwas anderes als diesen furchtbaren Schmerz wahrgenommen hatte.

„IZUMI!" Da war er wieder, er kam näher, packte und schüttelte ihn. Was sollte das, warum tat er ihm nur immer so weh? Er ließ nicht locker, er schüttelte den geschundenen Körper Takutos weiter und immer heftiger, bis sein Kopf haltlos von einer Seite auf die andere flog. Er versuchte, die großen, starken Hände abzuwehren, doch dazu fehlte ihm die Kraft. Ein heiseres Krächzen entwich seiner Kehle. Mühsam öffnete er die Augen – wann hatte er sie geschlossen? Das Bild war jedoch dasselbe. Das hübsche Gesicht des Sängers, eingerahmt von langen, silberblondem Haar, das ihm locker über die Schultern fiel. Die Augen, strahlend blau und tiefgründig. Trotz aller Schmerzen, die er ihm bereitete – Koji war zum Sterben schön. Der muskulöse Körperbau, die breite Brust, seine starken Arme, seine Hüften – wer konnte es den Mädchen verdenken, dass sie sich in ihn verliebten? Sie kannten sein bösartiges Wesen schließlich nicht so gut wie er. Izumi zwang sich, hineinzusehen, in die beiden Sterne von der Farbe des Ozeans, stolz und grausam. Doch alles, was er sah, war große Besorgnis und Angst.

Was war geschehen? Koji hatte ihn wieder vergewaltigt. Er sah an sich herab. Verblüfft weiteten sich seine Augen. Er war vollständig bekleidet. Sein Hemd – nicht zerrissen, wie er es in Erinnerung hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihm das Erlebte sehr bekannt vorgekommen war...ja, Nanjo hatte sich wieder an ihm vergriffen – aber nicht vorhin. Was war nur los? Das musste das Fieber sein...sein Unterbewusstsein war grausamer als der Sänger, ihn diese Szenen träumen zu lassen. Er hatte die Nacht vor der Versöhnung mit Koji wohl doch noch nicht verarbeitet.

Zitternd schob er die schwere Decke beiseite und schwang seine Beine aus dem Bett. Er war immer nur das Opfer. Warum nur? Er hatte noch nie jemanden so verletzt, dass es das hier rechtfertigte!

Aus den Augenwinkeln beobachtete er Nanjo. Dieser saß neben ihm und wagte es nicht, ihn zu berühren. Also wusste er, wovon er im Fieberwahn geträumt hatte? Wenn es bei ihm solche Schuldgefühle verursachte, warum tat er ihm das alles überhaupt an? Aber vermutlich wusste nicht einmal Koji selbst die Antwort auf diese Frage.

Takuto verstand sich selbst nicht mehr. Obwohl ihm der Schreck in allen Knochen saß, wünschte er sich plötzlich nichts sehnlicher, als in die Umarmung seines Freundes (?) zu flüchten.

„Koji...komm her...und halt mich fest..." bat er, leise, kaum hörbar, mit bebenden Lippen.

Nanjo streckte die Arme aus und presste seinen Geliebten an sich. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er spürte, wie sehr Izumi zitterte. „Ich wünschte, ich könnte dir diese Erinnerungen nehmen!" schluchzte er.

Takuto hörte gar nicht auf seine Worte. „Fester..." keuchte er. Koji schnürte ihm schon jetzt fast die Luft ab, doch es war noch nicht genug. Er wollte den Körper dieses Mannes spüren, als ob er zu seinem gehören würde. Er wollte sich selbst beweisen, dass er kein grausamer Dämon war, sondern der einzige, der ihn liebte.

„Du spinnst ja! Ich breche dir das Rückgrat!" protestierte Nanjo.

„NA UND?" schrie Izumi wie in Raserei und schlang seine Arme um die Schultern seines Freundes. Mit aller Kraft presste er ihn an sich. Es nützte nichts, es nützte nie etwas. Aber irgendetwas in ihm konnte nicht loslassen, zwang ihn dazu, dem Sänger immer wieder zuzuschreien, er solle ihn fester halten. Er hätte das Gefühl gehabt, zu sterben, hätte er nur einen Zentimeter Luft zwischen ihre beiden Körper gebracht.

Er war am Ende. Er hatte keine andere Wahl. Es würde Koji das Herz brechen. Sollte er es wirklich tun? Takuto fror. Noch immer wütete das Fieber in seinem Körper, er hätte eigentlich nicht einmal das Bett verlassen dürfen. Doch es gab noch etwas, das er klären musste.

Der Wind heulte und zerrte an seinem Mantel, als wolle er ihn von seinem Vorhaben abhalten. Doch Izumi setzte weiterhin tapfer einen Fuß vor den anderen.

Es widerstrebte ihm zutiefst, das zu tun. Mittlerweile suchte er zwanghaft nach Gründen, wieder umzukehren und zu Koji zurückzukehren.

Das, was er vorhatte, war Wahnsinn. Hatte er denn vergessen, was sie ihm angetan hatten? Wie sehr sie ihn verletzt hatten, kalt, ohne Skrupel – und das nur, weil sie dem Sänger eins auswischen wollten.

Und doch stand er nun vor dem Firmengebäude der Nanjo Company. Bepackt mit einem riesigen Koffer und einem Rucksack, der fast so groß war wie er selbst. Seine rechte Hand hielt noch immer den Brief umklammert, wie ein Rettungsseil. Er wusste nicht einmal, warum er ihn mitgenommen hatte.

Es war der Brief, in dem die Trainer aus Italien im mitteilten, dass er zumindest für ein Jahr nach Europa kommen sollte, um einen besseren Eindruck von den Spielen dort zu bekommen. Sie wollten ihn wirklich. Das verwirrte Takuto immer mehr, schließlich hatte er kaum mit ihren Spielern mithalten können. Doch als er angerufen hatte, hatte man ihm erklärt, dass die Trainer der Ansicht seien, er hätte genug Talent und Können, um schon bald einer der Besten zu werden.

Er hatte nur zwei Tage später einen Vertrag zugeschickt bekommen, laut dem er ein

Jahr lang als vollwertiges Teammitglied akzeptiert werden sollte – und dennoch würde er gehen können, wann immer er wollte. Seltsam. Izumi hatte sehr lange über dieses Angebot nachgedacht. Und immer wieder waren Fetzen seines Alptraumes vor seinem geistigen Auge erschienen. Er war am Ende. Er musste weg von Nanjo, sonst würde er noch verrückt werden. Takuto hatte Shibuyas Worte nicht vergessen...' Du hast ihn schon genug zerstört'... ‚Verlass ihn. Das ist barmherziger.' ... ‚Du zerstörst ihn, Stück für Stück!' und ‚Der Junge bräuchte auch so schon Hilfe, ohne deine phantastischen Versuche, ihn völlig zu Grunde zu richten!'

Das hatte er zu Koji gesagt...und er hatte recht gehabt. Er würde nicht zu einem Psychologen gehen, es würde reichen, wenn er ein paar Flugstunden zwischen sich und Nanjo brachte.

Schweren Herzens ging er auf die Glastür zu. Mit einem surrenden Geräusch glitt sie auf und gab den Weg in die Eingangshalle frei. Takuto hatte das alles hier schon einmal gesehen, doch er wunderte sich immer wieder darüber, wie ein Raum gleichzeitig protzig und einfach wirken konnte. An den Wänden hingen Gemälde, in kühlen Farben gehalten, trotzdem sehr schlicht, aber man sah ihnen ihren Wert förmlich an.

Die ganze Halle war mit einem schönen, sicherlich sehr kostbaren Teppich ausgelegt. Izumi hatte keine Zeit, die Verschwendungssucht der Nanjo Brüder weiter zu bestaunen, denn eine junge Frau riss ihn aus seinen Gedanken. Sie saß am Empfang und lächelte, doch es war ein aufgesetztes, durch und durch künstliches Lächeln. Ihr Ton war höflich, als sie fragte, was sie für ihn tun könnte, doch man sah ihr an, für was sie Takuto hielt – nämlich einen Penner. Zugegeben, sein Mantel war nicht mehr der neueste und der Koffer und der Rucksack mussten auch einen seltsamen Anblick abgeben.

„Ich muss mit Hirose sprechen." erklärte er.

„Und aus welchem Grund, wenn ich fragen darf? Hirose-sama ist sehr beschäftigt."

Nun klang sie eindeutig unwillig.

Izumi nickte. „Das verstehe ich. Aber es geht um seinen Bruder, Koji."

Nun wurde die junge Frau hellhörig. Sie zögerte zwar noch einen Moment, dann runzelte sie die Stirn. „Wen darf ich melden?"

„Takuto Izumi."

Sie drückte auf eine Taste an ihrer Gegensprechanlage. „Hirose-sama, hier ist ein junger Mann namens Izumi, er meint, es wäre wichtig und es ginge um Koji-sama."

Sie lauschte einen Moment, dann nickte sie. „Geradaus die Treppe hoch, dann die erste Tür links." sagte sie nur.

Takuto ging wortlos an ihr vorbei und stieg die Stufen hoch. Seine Knie waren weich.

Ein Fehler. Er machte einen Fehler. Einen großen Fehler. Aber er hatte vermutlich keine andere Wahl.

Er hatte das Ende der Treppe erreicht, sein Blick irrte unsicher durch den Flur. Links von ihm befand sich eine große, verzierte Tür aus Eichenholz. Izumi holte tief Luft und machte einen einzelnen Schritt. Nervös befeuchtete er mit der Zunge seine Lippen. Er wollte nicht dort hinein. Er wollte es nicht. Weg. Weg. Er wollte nur weg von hier.

Dieser Geruch...Takutos Herz schien sich in ein hartes, unförmiges Stück Fleisch verwandelt zu haben, das nicht mehr fähig war, das Blut durch seinen Körper zu jagen. Ihm wurde schwarz vor Augen, ein heftiges Schwindelgefühl ergriff Besitz von ihm. Er kannte diesen schweren, unangenehmen Geruch. In jener Nacht damals...was geschehen war, war schlimmer gewesen als alles, was Koji ihm angetan hatte, zusammengenommen.

Izumi zitterte, seine Hände ballten sich unkontrolliert zu Fäusten und öffneten sich wieder. Schließlich musste er sich, schwer atmend, am Treppengeländer festhalten, um nicht zusammenzubrechen, der Koffer knallte mit einem lauten Krach auf den Boden. Warum hatte er nur solche Angst? Er war doch stark!

Er raffte das letzte bisschen Mut in sich zusammen, und hob die rechte Hand, um anzuklopfen. Das Geräusch seiner Knochen auf dem harten Holz ließ unangenehme Erinnerungen in ihm aufsteigen. Vor seinem geistigen Auge sah er sich selbst, wild um sich schlagend, immer wieder knallte er dabei gegen irgendein Hindernis, Kojis verschwitztes Gesicht über ihm..."Komm rein."

Takuto schrak aus seinen Gedanken auf. Es hatte keinen Zweck. Es war zu spät. Die Narbe an seiner Hüfte begann wieder, zu schmerzen, als er den Koffer wieder aufnahm, die Klinke herunterdrückte und das Büro des ältesten Nanjo betrat.

Er sah Hirose, er saß an einem modernen, ziemlich großen Schreibtisch am Ende des Raumes. Izumi sah ihm direkt in die Augen, die denen Kojis so ähnlich waren und gleichzeitig doch so vollkommen anders. Der pochende Schmerz an seiner Hüfte machte ihn verrückt. „Was willst du hier?" begann der Bruder des Sängers, in mürrischem, ungeduldigen Ton. Von seiner sonst so kühlen und überlegenen Aura war nichts mehr geblieben.

Takuto holte tief Luft. „Ich werde nach Italien gehen."

Hirose runzelte die Stirn. „Toll." sagte er in spöttischem Ton. „Und deshalb kommst du hierher?"

„Ich möchte, dass sie darauf aufpassen, dass Koji hier bleibt und mir nicht folgt."

sagte Izumi geradeheraus. Was würde sein Gegenüber wohl antworten? Takuto biss sich auf die Lippen und wartete nervös die Antwort ab. Er hatte keine andere Wahl. Wer hatte die Macht, Koji zurückzuhalten, wenn nicht sein Bruder?

Er hatte wirksame Mittel, ihn unter Druck zu setzen.

„Weshalb glaubst du, dass ich das veranlassen würde?" Nanjo lächelte, er fand schnell wieder zu seiner Rolle, der des kalten Geschäftsmannes, zurück.

„Weil ich sonst hier bleibe. Wenn ich nicht mehr da bin, wird Koji alles im Sinn haben – nur nicht seine Musik. Es liegt doch in Ihrem Interesse, dass er mir fernbleibt."

Takuto hatte das Gefühl, neben sich zu stehen, sich dabei zu beobachten, wie er mit seinem Todfeind verhandelte. War wirklich er das, der da redete?

Er verstummte und wartete auf eine Reaktion.

Hirose schwieg einen Moment. Dann lächelte er. „Hast du solche Angst vor ihm, dass du sogar mich um Hilfe anflehst?" Er zog die Nase kraus, auf eine überhebliche und arrogante Art. Bastard.

Takuto straffte sich. Das alte Feuer kehrte in seinen Blick zurück, er fühlte sich plötzlich nicht mehr wie ein Hase vor dem Gewehr des Jägers.

„Wenn Sie mir nicht helfen, dann ..."

Sein Gegenüber runzelte die Stirn. „Was dann?" Er lächelte abfällig. „Willst du mir drohen?"

„Wenn Sie mir nicht helfen, bleibe ich in Japan und sorge dafür, dass Koji in einen Skandal nach dem anderen verwickelt wird. Er wird noch immer von Reportern umschwirrt, was sollte mich daran hindern, ihn einfach in der Öffentlichkeit zu küssen? Oder andere...'Dinge' zu tun..." Izumi lächelte böse, als er Hiroses wenig begeisterten Gesichtsausdruck sah. Im Plauderton fuhr er fort: „Sex auf der Straße wäre doch auch mal ganz lustig, nicht wahr?"

Nanjo verzog angewidert das Gesicht. „Ihr seid krank und pervers, alle beide. Ich lege keinen Wert darauf, eines Tages solche Schlagzeilen in den Zeitungen zu lesen." Ein kaltes, spöttisches Glitzern flackerte in seinen Augen auf. „Aber dir ist schon klar, dass ich genug Geld habe, um die Presse ruhig zu stellen, oder?"

Takuto zuckte gleichmütig mit den Achseln. „Sie können nicht die ganze Presse stilllegen, wenn sie jeden Tag neuen Schreibstoff haben."

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TEIL 4

Ein Windstoß brachte Takuto's ordentlich gekämmtes Haar durcheinander, die pechschwarzen Strähnen wehten ihm ins Gesicht.

War es richtig, zu gehen?

Sein Herz pochte schnell und hart. Izumi presste seine die Finger an seine Brust, als ob er es durch Handauflegen beruhigen könnte. Natürlich war das sinnlos. Es gab nur einen, der ihm Ruhe schenken konnte, derselbe Mann, der seine verletzliche Seele langsam zerstörte.

War es richtig, zu gehen?

Schon wieder dieselbe Frage.

Gab es darauf denn eine Antwort?

Die gab es.

Sie lautete ‚ja’.

Takuto träumte sicher nicht ohne Grund immer wieder davon, von einem silberhaarigen Dämon angegriffen zu werden, der Kojis Gesicht hatte. Dieser Mann war der einzige Mensch auf Erden, der Izumi's Herz mit einem Wort vernichten konnte. Er hatte sich immer für stark gehalten, für selbstständig und... in gewissem Sinne unbesiegbar. Vielleicht stimmte das auch...? Vielleicht war nur Koji seine Achillesferse, sein wunder Punkt? Oder hatte der Sänger ihm bloß klargemacht, dass er in einer Scheinwelt lebte...?

„Takuto-kun?“ Eine schwere Hand legte sich auf die Schulter des jungen Mannes. Dieser fuhr kaum merklich zusammen. Er sah und hörte nichts mehr, wenn er mit seinen Gedanken abdriftete. Hoffentlich passierte ihm das nicht irgendwann einmal bei einem Fußballspiel.

Izumi unterdrückte ein Niesen und nickte seinem Trainer zu. Verdammtes Fieber. Ihm war schon wieder heiß, als würde er in einem Backofen stecken. Seufzend bückte er sich und hob seine Tasche auf.

„Sind Sie soweit?“

Takuto nickte und ging wortlos weiter auf das Flugzeug zu. Der Wind frischte wieder auf und zupfte übermütig an seinen Kleidern, lüftete sein Hemd, sodass sein flacher Bauch sichtbar wurde. Misstrauisch warf er dem Trainer einen Blick aus den Augenwinkeln, doch dieser zeigte keine Reaktion. Es war eben nicht jeder so besessen von ihm wie Nanjo. Der Sänger hätte jetzt schon wieder ein anzügliches Grinsen im Gesicht gehabt und vermutlich wäre er auch ein Stück näher zu Izumi gerückt.

Ob er die Nächte mit dem sexsüchtigen Koji vermissen würde? Zugegeben, er hatte es genossen, wenn dieser mit ihm schlief... doch irgendwie bekam seine Lust jedes Mal einen gehörigen Dämpfer, wenn er daran dachte, dass der Sänger ihn vergewaltigt hatte, und das mehr als einmal.

Auch sein schlechtes Gewissen, Nanjo zurückzulassen, ließ bei dem Gedanken plötzlich erheblich nach.

Noch immer warnte ihn eine leise Stimme in seinem Unterbewusstsein, dass es ein Fehler war, Koji einfach ohne ein Wort des Abschieds zu verlassen – zu was der Kerl fähig war, hatte Takuto schließlich bei seiner ersten Reise nach Italien erlebt.

Doch ein anderer Teil von ihm, momentan der wesentlich stärkere, wusste, dass nun der richtige Zeitpunkt gekommen war, um wenigstens EINMAL an sich selbst zu denken. Verstohlen sah er sich um. Tatsächlich entdeckte er ein paar große, breitschultrige Gestalten, die sich zwar sehr unauffällig verhielten, doch einem aufmerksamen Beobachter, der wusste, wonach er zu suchen hatte, sprangen sie geradezu ins Auge.

Hiroses Männer.

Skeptisch musterte er einen von ihnen. Er war sehr groß und hatte ein Kreuz wie ein Kleiderschrank. Zweifellos verfügte er über gewaltige Kräfte. Aber würde das ausreichen, um einen tobenden Koji Nanjo, der zu allem bereit war, aufzuhalten, sollte er kommen...?

Nervös hielt er nach dem Sänger Ausschau. Nirgends war auch nur eine Spur von ihm zu sehen, doch diese Tatsache beruhigte Izumi keineswegs. Er fürchtete, dass jeden Augenblick Kojis Silberschopf in der Menge am Flughafen auftauchen könnte, doch nichts geschah.

Er beschleunigte seinen Schritt, sein Trainer musste fast laufen, um nicht zurückzufallen. Schon war er an der Treppe, die zum Flugzeug führte, angelangt, unsicher setzte er einen Fuß auf die erste Stufe.

Er konnte selbst kaum glauben, was er da tat. Er verließ Koji. Er verließ Japan. Seine Geschwister. Er ließ sein ganzes, verfluchtes Leben zurück. Ab jetzt war der einzige Zweck seines Daseins der Fußball. Nie wieder würde der Sänger ihm weh tun können, vorausgesetzt, er blieb in Italien, suchte dort Schutz.

Ihm fiel es plötzlich nicht mehr so schwer, immer weiter zu gehen.

Leichtfüßig huschte er die Treppe hinauf, stets zwei Stufen auf einmal nehmend.

Er reichte der Stewardess am Eingang sein Ticket, diese besah es sich kurz und nickte dann.

Ein letztes Mal blickte Takuto zurück.

Wieder frischte der Wind auf, schien ihn in das Flugzeug drücken zu wollen.

Koji...er war tatsächlich nicht gekommen. Warum? Hatte er den Brief nicht gefunden? War Izumi ihm vielleicht doch egal, störte es ihn nicht, dass er das Land verließ? Oder... das Herz des jungen Mannes krampfte sich schmerzhaft zusammen, als er sich den Sänger vorstellte, auf seinem Motorrad, die Hauptstraße entlang rasend.

Ein Auto, das die Spur wechselte.

Das entsetzte Gesicht Nanjo's, sein verzweifelter Versuch, seine Maschine herumzureißen.

Reifenquietschen.

Ein erstickter Schrei.

Ein Motorrad, das seinen Fahrer abwarf wie ein bockiges Pferd.

Das Geräusch von Metall, das über Stein schleift.

Ein dumpfer Knall, wie er entsteht, wenn Knochen auf Blech trifft.

Blut.

Eine reglose Gestalt am Boden.

Die Menschenmenge, die von dem Unfall angezogen wurde wie Motten vom Licht.

In der Ferne das Heulen der Sirenen.

„Takuto-kun, ich wünsche Ihnen noch viel Glück. Trainieren Sie hart, dann werden sie bald der beste Spieler Italiens sein.“

Izumi konnte gerade noch einen erschrockenen Schrei unterdrücken, als die Stimme des Trainers ihn aus seinen Gedanken riss. Sein Atem ging schnell, sein Herz schien nur noch ein unförmiger, kalter Klumpen in seiner Brust zu sein. Koji...bitte...ihm durfte nichts geschehen...bitte...

Wortlos nickte er und drehte sich um, betrat hastig das Flugzeug. Es kam fast einer Flucht gleich. Aber war es das nicht auch? Er floh vor seinen Problemen.

Na und?

In Italien bekam er die Chance, neu anzufangen.

Nach kurzem Suchen fand er seinen Sitz. Nummer 14. Ob das eine Glückszahl für ihn war? Mit einem Seufzer auf den Lippen ließ er sich in das bequeme Polster sinken, seinen Rucksack platzierte er zwischen seinen Beinen.

Nun konnte er nicht mehr zurück.

Es war entschieden.

Er griff in seine Tasche und zog ein zerknittertes Blatt Papier hervor. Schon unzählige Male hatte er es gelesen. Er konnte jedes einzelne Wort auswendig und doch überflogen seine dunklen Augen den Text wieder und wieder. Dieser Fetzen Papier war vielleicht sein Ticket in eine Zukunft ohne Koji.

Ohne dieses ständige, nagende Gefühl in ihm, dass das, was er tat, nicht richtig war. Aber würde er das stetige Gefühl der Sorge auch irgendwann hinter sich lassen? Er wusste doch, was passiert war, als er Nanjo das letzte Mal zurückgelassen hatte. Der Sänger war mit seinem Motorrad in das nächst beste Auto gerast.

Hätte er sich persönlich von ihm verabschieden sollen? Nein. Koji hätte niemals zugelassen, dass Takuto nach Italien ging. Eher hätte er nach einem Messer gegriffen und sie beide umgebracht.

Izumi sah den hochgewachsenen Nanjo vor seinem geistigen Auge.

Die ebenmäßigen Züge... das lange, seidige Haar... wie oft hatte Takuto sein Gesicht an der Schulter des Sängers verborgen und in dessen muskulösen Armen Schutz gesucht?

Die blauen, stechenden Augen... kalt wie Eis musterten sie jeden Menschen, nur bei ihm, Izumi, waren sie weich, voller Liebe und Verlangen.

Koji... warum verfolgte er ihn? Nicht einmal jetzt war er vor ihm sicher. Warum...

Er sah aus dem kleinen Fenster. Noch immer keine Spur von dem Sänger. Gut. Oder? Wenn er ehrlich war, dann war er ein wenig enttäuscht.

Warum?? Er musste froh sein! Denn... wenn er Koji jetzt sehen würde... hätte er dann noch die Kraft, sitzen zubleiben und nicht aufzuspringen und sich Nanjo in die Arme zu werfen?

 

Ich hatte Angst, es dir persönlich zu sagen. Ich reise heute ab. Nach Italien. Ich werde für ein Jahr dort bleiben. Wenn es mir dort gefällt und ich zum Team passe, bleibe ich für immer dort, denke ich.

Ich kann so einfach nicht mehr weiterleben. Du zerstörst mich und sogar dich, auch wenn du es nicht merkst. Ich weiß, dass du mich liebst, aber ich muss wenigstens einmal an mich denken.

Abstand von allem...das ist es, was ich brauche.

Bitte tu nichts unüberlegtes, Koji. Ich werde nicht zurückkehren, wenn du wieder einen Unfall baust. Und...wärst du wirklich so grausam, dass du riskierst, mir auch noch die Schuld an deinen Tod aufzubürden?

Ich weiß einfach nicht, ob ich dich liebe oder ob ich einfach nur das Gefühl brauchte, geliebt zu werden.

Diese Frage macht mich völlig fertig. Wenn Liebe bedeutet, alles zu verzeihen, nichts zu nehmen, nur zu geben...dann liebe ich dich nicht.

Bitte versuche nicht, mich aufzuhalten.

Essen steht in der Küche.

 

Takuto

 

Koji starrte den Brief an. Las ihn noch einmal. Fuhr sich mit zitternden Fingern durch die Haare. Überflog sie Zeilen ein drittes Mal. Immer die gleichen Worte, egal wie oft er ihn las. Sie verwandelten sich nicht in ein ‚Hi Koji ich bin heut was länger beim Training, Essen findest du im Kühlschrank’.

Er registrierte nicht einmal, dass seine Beine unter seinem Gewicht nachgaben und er zu Boden sank.

Dieser Brief ergab keinen Sinn...! Vor wenigen Stunden war er doch aufgewacht...er hatte doch Takuto in seinem Arm liegen gesehen...wie Izumi seinen schlanken Körper an den seinen drückte und leise im Schlaf vor sich hin murmelte...!

Er konnte nicht weg sein! Das konnte nicht stimmen! Er war auf dem Fußballplatz, ganz bestimmt!

Die Tür würde gleich aufgehen...

Koji sah auf, seine Augen war getrübt durch den Schleier von Tränen, der sich über sein Gesicht gelegt hatte.

Takuto...er hatte neben ihm gesessen, sein Blick war unstet umhergeirrt, bis er an Nanjo's Gesicht Halt gefunden hatte. „Koji...komm her...und halt mich fest...“ hatte er gesagt, am ganzen Leib zitternd.

Koji schrie vor Verzweiflung und Trauer laut auf. Warum? Warum nur? WARUM VERSTAND ER ERST JETZT DAS VERHALTEN SEINES FREUNDES? Warum hatte er es nicht sofort verstanden?

Es passte alles zusammen...der Brief, den Takuto erhalten hatte...dessen Zusammenzucken, als er ihn las...und dann...die Nacht...ihre letzte gemeinsame Nacht...

Warum hatte er nicht begriffen, aus welchem Grund Izumi ungewöhnlich nachdrücklich nach Koji's Nähe verlangt hatte? Er hatte es doch deshalb getan, oder? Weil er ihn niemals wiedersehen würde...

Der Sänger stemmte sich zitternd hoch und stützte sich schwer auf dem kleinen Tisch ab. Das konnte doch alles nicht wahr sein...das war ein Traum...ein Traum, mehr nicht...

Heiße Tränen fielen auf den Brief und ließen die Tinte verschwimmen. Hastig nahm Koji das Papier weg. Das hier war vielleicht das Letzte, was er von Takuto hatte. Er musste darauf aufpassen wie auf einen Schatz.

Und dann...ja, Izumi würde zu ihm zurückkehren.

Ganz bestimmt.

Er würde zurückkehren und Nanjo konnte ihm den Brief geben, damit zeigen, wie wichtig Takuto für ihn war.

Und dann würden sie sich in die Arme fallen und alles war wieder gut.

Ganz bestimmt. So würde es sein.

Mühsam schleppte er sich zum Bett und ließ sich auf die weichen Decken fallen. Koji vergrub seine Nase in dem weißen Stoff und atmete tief ein, füllte seine Lungen mit der Luft, die auch Takuto vor wenigen Stunden noch eingeatmet hatte.

Er versuchte gar nicht ernst, das Schluchzen zu unterdrücken, das seinen Körper schüttelte. Verzweifelt krallte er seine Hände in Izumi's Kopfkissen und schloss die Augen. „Warum? Warum nur?“ flüsterte er heiser. „Wie soll ich denn noch ohne dich weiterleben? Sag es mir...SAG ES MIR!!“
Er sollte ihm folgen. Niemals könnte er ohne Takuto weiter in Japan leben. Das war unmöglich. Aber Izumi wollte ihn nicht sehen. Was würde er tun, wenn Koji ihm hinterherfuhr?

Er durfte es nicht tun. Er sollte lieber an das Wohl seines Freundes denken. Denn der war unglücklich, wenn er bei ihm war. Aber...WARUM HATTE ER DANN GESAGT, DASS ER BEI IHM BLEIBEN WÜRDE? Warum all die schönen Worte?

Koji hob langsam den Kopf und öffnete seine Augen. Die heißen Tränen machten ihn fast blind, er konnte gerade einmal Schemen erkennen.

Er stand auf und stolperte zur Haustür, dabei riss er den Tisch samt dem Geschirr darauf um, als er gegen ihn taumelte.  Nanjo beachtete nicht die Scherben einer Schale, die sich in seine Haut gruben und tief in seinem Fleisch stecken blieben. Der Sänger riss die Tür so heftig auf, dass sie wuchtig gegen die Hauswand krachte.

Er würde sich nicht mehr lange unter Kontrolle haben.

Mit zitternden Fingern angelte er seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche und rammte ihn in das Schloss seines Ferraris.

Kaum saß er in dem Wagen, übermannte ihn der Wunsch beinahe, zum Flughafen zu fahren. Er durfte das nicht tun. Wenigstens einmal sollte Takuto nicht von ihm enttäuscht sein.

Mit quietschenden Reifen sprang der Ferrari geradezu auf die Straße. Koji achtete nicht auf die Tachonadel, die vermutlich eh auf irgendeine Zahl weit über der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit deutete. Was war wichtiger? Vorschriftgemäß zu fahren oder irgendwie zu verhindern, dass sein Körper sich seinem Verstand widersetzte und er Izumi womöglich noch aus dem Flugzeug herausriss?

Nanjo hörte nicht das aufgebrachte Hupen der anderen Autofahrer, sah nicht das drohende rote Licht der Ampeln, die wild gestikulierenden Passanten.

Einbahnstraßenschilder existierten nicht mehr für ihn, nur noch seine verzweifelten Bemühungen, dem Drängen seines Herzens nicht nachzugeben. Einmal. Nur einmal im Leben wollte er ‚vernünftig’ handeln. Das wollten sie doch immer alle. Das wollte Takuto. Einmal sollte er stolz auf ihn sein können.

Mit einem heftigen Ruck riss er das Lenkrad herum, um einem LKW auszuweichen, streifte dafür einen weißen Kombi. Das Geräusch des kreischenden Metalls schmerzte in seinen Ohren, doch noch viel mehr schmerzte der Verlust des einzigen Menschen, den er je geliebt hatte.

Was tat er überhaupt? Er konnte doch nicht...er konnte doch nicht zulassen, dass Takuto für immer und ewig aus seinem Leben verschwand...! Wie...wie konnte er...

Nanjo trat die Bremse bis zum Anschlag durch, der Wagen schlitterte noch ein ganzes Stück weiter und stellte sich quer.

Gerade, als Koji wieder Gas geben und die Richtung wechseln wollte, riss jemand die Fahrertür auf.

Das Gesicht Katsumi's erschien direkt neben ihm. Er schrie ihn an, doch der Sänger hörte seine Worte nicht. Was machte der Kerl hier? Er warf einen Blick durch die Windschutzscheibe. Erst dann wurde ihm klar, dass er sich direkt vor dem Haus Shibuya's befand, seinem ursprünglichen Ziel.

„KOJI! Hörst du mir überhaupt zu?! WAS MACHST DU HIER??“ fauchte dieser gerade.

Langsam wandte Nanjo ihm das Gesicht zu und lächelte.

Shibuya stockte für einen Moment der Atem. Was hatte das zu bedeuten? Dieser unstete, völlig irre Blick in den Augen Kojis, sein unkontrolliertes Lächeln, der Auftritt, den er gerade hingelegt hatte...was war nur passiert?!

Takuto...irgendetwas musste mit Takuto vorgefallen sein!

Nanjo machte Anstalten, seinen Fuß wieder auf das Gaspedal zu setzen, doch Katsumi kam ihm zuvor und packte ihn an den Schultern. Kurzerhand zog er den Sänger aus dem Wagen, stellte dabei stirnrunzelnd fest, dass er nicht einmal angeschnallt gewesen war. Und dann dieser unbeschreibliche Fahrstil, den Nanjo heute an den Tag gelegt hatte. Der Kerl hatte mehr Glück als Verstand.

Er wehrte sich nicht einmal sonderlich, so dass Shibuya kaum Schwierigkeiten hatte, ihn ein Stück von dem Ferrari wegzuschleifen.

Mittlerweile hatte sich eine nicht unbeträchtliche Menschenmenge um sie herum versammelt. Na bravo. Es war nur eine Frage von Minuten, bis die ersten Reporter eintrudeln würden.

Nanjo musste schnell weg von der Straße.
Ächzend half Shibuya seinem Freund auf die Beine, konnte dabei leider nicht mit dessen Hilfe rechnen, was das Ganze etwas kompliziert machte.

„Koji! Komm, du musst ins Haus!“ keuchte er. Keine Reaktion. Dem Sänger saß weiterhin dieses irre Lächeln im Gesicht.

„Wenn du nicht mit mir kommst, dann wird Takuto traurig sein!“ Ob diese Masche funktionieren würde? Eines war klar: Nanjo war nicht mehr bei Sinnen. Wenn etwas half, dann war es die Erwähnung seines kleinen Geliebten.

Und tatsächlich. Für einen Moment kehrte ein halbwegs normaler Ausdruck in seine Augen zurück, er stützte sich nicht mehr ganz so schwer auf Katsumi und ging sogar zum größten Teil aus eigener Kraft auf die Haustür zu. Das einzige, was sein Freund noch machen musste, war, aufzupassen, dass er nicht das Gleichgewicht verlor und ihn an den inzwischen unzähligen Schaulustigen vorbeizulotsen.

Schließlich kamen sie sogar fast unbehelligt am Hauseingang an, nervös suchte Katsumi nach dem Schlüssel und drehte ihn hastig im Schloss um.

Einer der Versammelten versuchte, sich mit in den Flur zu quetschen, doch Shibuya versetzte ihm kurzerhand einen Stoß vor die Brust und warf ihm die Tür vor der Nase zu.

Schwer atmend lehnte er sich gegen die Wand und starrte Koji an, der noch zwei, drei Schritte weitertaumelte und dann zusammenbrach.

Ungläubig trat Katsumi zu ihm. Das...das konnte doch nicht sein...! Nanjo...weinte? Tatsächlich, seine Schultern zuckten und er hatte beide Hände vor sein Gesicht geschlagen, einzelne Tränen tropften zu Boden.

Der Anblick zerriss Shibuya fast das Herz. Der starke, unbesiegbare Koji, der sich durch nichts und niemanden unterkriegen oder belehren ließ...war auf einmal nur noch ein Häuflein Elend.

Vorsichtig legte Katsumi einen Arm um ihn. „Was ist geschehen?“ fragte er sanft.

Er bekam keine Antwort. Doch plötzlich sah der Sänger auf und starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. „Halt...mich auf...! Du muss verhindern, dass ich ihm folge!“ flüsterte er mit tränenerstickter Stimme.

„Dass du ihm folgst? Wem? Takuto?“ Shibuya kratzte sich hilflos am Kopf. „Und wohin darfst du ihm nicht folgen? Verdammt, was ist geschehen?“

Koji brach in haltloses, unkontrolliertes Gelächter aus. Er packte Katsumi an den Schultern und zog ihn ruckartig zu sich heran, so dass ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Wieder vollkommen ernst geworden, sah er tief in die Augen seines Gegenübers.

Shibuya versuchte, sich aus dessen Griff zu befreien, ohne den Blick von Nanjo abwenden zu können. Er hatte schon einmal festgestellt, dass der Wahnsinn von dem Sänger langsam Besitz ergriff, doch was er jetzt sah, waren nicht mehr die schönen blauen Augen seines langjährigen Freundes, sondern die eines Psychopathen.

„Du hast auch Angst vor mir.“ stellte Koji mit rauer Stimme fest. „Genau wie er. Jetzt ist er weg.“

„Koji...!?“ Langsam geriet Katsumi in Panik. Was hatte der Kerl vor?? Sein Griff schmerzte, die langen Finger gruben sich unbarmherzig in seine Schultern...und vor ihm...schien das Gesicht einer Schlange, die ihre Beute begutachtet zu schweben.

„Er ist weg. Und wird nie zurückkehren. Bin ich daran schuld? Sag es mir, Katsumi, bin ICH daran schuld?“

Keuchend wand sich Shibuya, doch er hatte keine Chance zu entkommen. „Lass mich los! Du tust mir weh!“ stöhnte er.

„Das...das hat er auch immer gesagt...“ Eine Träne lief Koji's an Wange herab. „Er wird zurückkehren...ja...er wird zurückkehren, sobald er sich von meiner Liebe nicht mehr bedrängt fühlt. Oder wenn er eifersüchtig wird...?“

Er verstärkte seinen Griff noch, Katsumi schrie vor Schmerz auf.

Ohne Vorwarnung presste Nanjo seine Lippen auf Shibuya's Mund.

Dem jungen Mann entfuhr vor Schreck ein weiterer erstickter Schrei. Mit aller Kraft versuchte er sich, den Fängen des Sängers zu entziehen, doch er war dazu viel zu erschrocken, das einzige, was er erreichte, war, dass Koji als Strafe für seine Gegenwehr auch noch seine Zunge in Katsumi's Mund zwängte.

Unkontrolliert begann dieser auf ihn einzuschlagen, jedoch hatte das nicht viel Sinn.

Plötzlich verstand er, warum Takuto, der an sich doch recht kräftig war, die grobe Behandlung Nanjo's über sich ergehen lassen musste.

Je mehr man litt, je mehr man sich wehrte und auf den Sänger einschlug, desto unempfindlicher gegen Schmerz schien dieser zu werden.

Oh Gott...was tat er hier überhaupt? Warum?

Hatte er jemals etwas getan, was DAS HIER rechtfertigte? Warum??

Er war doch immer für Koji da gewesen...

Katsumi stöhnte erleichtert auf, als Nanjo endlich seine Zunge zurückzog und seine heißen Lippen nicht mehr die Shibuya's berührten.

Zitternd sank er zusammen, als der Sänger ihn losließ. Eine innere Stimme schrie ihm zu, wegzurennen, doch er war nicht fähig, sich zu rühren. Der Geschmack Koji's war noch immer in seinem Mund, doch er wagte nicht, auszuspucken. Denn was würde Nanjo dann mit ihm anstellen?
“Warum...?“ hauchte er. Er wollte nichts mehr, als aufzustehen und wegzulaufen. Doch ihm fehlte die Kraft.

Er spürte eine kräftige Hand an seinem Arm, die ihn brutal in die Höhe riss. Endlich erwachte er aus seiner Erstarrung und schlug einfach zu, ohne nachzudenken.

Doch der Sänger war schneller als er, mühelos wich er aus und lachte rau.

Shibuya sah den Schlag erst kommen, als es zu spät war.

Koji's Faust traf ihn mit unvorstellbarer Wucht und gefährlicher Präzision.

Der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken, als Katsumi zusammenbrach. Er spürte gerade noch, wie Nanjo ihn auffing...dann umfing eine schwere, schwarze Decke seinen Geist.

 

Jemand hustete. „Das kann ich nicht.“

Katsumi hielt den Atem an. Wer war das? Was war passiert?

„Du bist so...anders als Takuto. Mir wird allein bei der Vorstellung schlecht.“

Vorsichtig öffnete er die Augen.

Koji saß direkt vor ihm und starrte ihn angewidert an.

Schlagartig kehrte Shibuya's Erinnerung zurück. Erschrocken zuckte er zusammen und wollte zurückweichen, bis er feststellte, dass er an einer Wand lehnte. Er war gefangen. Kein Ausweg. Keine Fluchtmöglichkeit. Angsterfüllt sah er wieder zu dem Sänger herüber.

„Reg dich ab. Ich hab doch gesagt, dass ich dir nichts tue. Du unterscheidest dich einfach zu sehr von ihm.“ Das vertraute, kalte Lächeln kehrte auf Nanjo's Gesicht zurück. Seine Augen glitzerten nicht mehr so gefährlich, seine Miene wirkte wieder wie eine Maske, die keine Gefühlsregung durchbrechen konnte.

Gelassen zog er an einer Zigarette, die er sich wohl gerade angesteckt hatte.

Shibuya wagte es nicht, sich zu bewegen. War es nur eine Frage der Zeit, bis der Wahnsinn wieder Besitz von Koji's Geist ergriff?

Er starrte ängstlich den muskulösen Sänger an.

Wie ein Dämon saß er vor Katsumi auf dem Boden, atmete gierig den Rauch der Zigarette ein, dessen Ende blutrot aufglühte, als Nanjo daran zog.

Die reglose Miene, ein unbewegter Gesichtsausdruck.

Shibuya kannte ihn schon zu lange, um nicht zu wissen, dass in seinem Freund noch immer dieser gefährliche Wahnsinn loderte.

Seine Augen wirkten auf den ersten Blick eiskalt wie immer. Aber sie irrten unstet umher, schafften es nicht, ein festes Ziel zu fixieren.

Erst jetzt begriff Katsumi wirklich, wie sehr Koji den jungen Fußballer geliebt haben musste. Hatte er sich geirrt? Er hatte immer gehofft, dass Takuto den Sänger verlassen würde, bevor diese Liebe sie beide zerstörte. Aber...war es nicht schon zu spät gewesen? Brauchten sie sich nun so sehr, dass sie tatsächlich nicht mehr ohne einander leben konnten?

Verärgert stellte Shibuya fest, dass seine Hände zitterten. Was sollte das? Koji hatte ihm doch schließlich nicht wirklich etwas angetan! Hatte er etwa Angst vor ihm? Blödsinn. Er war doch sein Kumpel!

 

Bestimmt hat jeder mal einen Traum gehabt, aus dem man einfach nicht erwachen kann, obwohl man genau weiß, dass man schläft. Und auch die Schrecken verlieren nicht das Mindeste von ihrem angsteinflößenden Charakter. Genau diese Art von Traum fesselte nun Takuto's Körper an seinen Sitz im Flugzeug.

Er sah Koji, seinen Freund, seinen Geliebten, in der Fötusstellung zusammengekauert auf dem Fußboden, wimmernd und schluchzend. Izumi wusste nicht, woher diese Bilder kamen, die wie ein Film vor seinem geistigen Auge abliefen. Verdammt, wieso ging seine Phantasie so dermaßen mit ihm durch??

Nanjo richtete sich auf, sein Gesicht war zu einer Grimasse aus seelischem Schmerz geworden. Takuto fühlte sich wie ein unbeteiligter Beobachter, der nicht in das Geschehen eingreifen konnte. Er hatte keine Hände, um nach Koji zu greifen, schien über dem Schauplatz zu schweben, ein körperloser Geist, der seine sterbliche Hülle verloren hatte.

Er wollte schreien, loslaufen und den Körper des Sängers mit beiden Armen festhalten, sich an ihn drücken, verhindern, dass er weiterging. Auf Nanjo's Zügen lag plötzlich ein leises Lächeln, traurig und schmerzvoll.

Die Farben wurden unwirklich und grell, wie auf einem schlechten Gemälde, vermischten sich, als hätte der Maler dieses Szenarios festgestellt, dass die Farben nicht mehr stimmten und nun beschlossen, sein Werk mit einem Eimer Wasser der Vernichtung preiszugeben.

Die Wände des Zimmers schienen sich zu verbiegen, wurden dunkel, zerbrachen. Das einzig klare in diesem Raum war Koji. Die hochgewachsene, starke Gestalt seines Geliebten stand einsam, verlassen, inmitten einer endlosen Leere, umgeben von wogender Dunkelheit, körperlose Schatten, inmitten dieses Nichts umschlichen ihn wie Raubtiere, ihrer Beute auflauernd.

Takuto wollte schreien, wollte zu seinem Freund. Doch er war machtlos.

Nicht einmal ein Körper war ihm vergönnt in diesem Traum, nicht einmal einen Mund hatte er, um zu schreien.

Keine Arme, um sie auszustrecken und Koji festzuhalten.

Keine Beine, um zu laufen, zu seiner großen Liebe zu laufen, der einzigen, der einzig wahren Liebe in seinem Leben.

War das der Tod? Würde man zu einer körperlosen Seele werden, bloßer Verstand, reines Bewusstsein ohne etwas spüren zu können, verdammt bis in alle Ewigkeit zu Regungslosigkeit, unfähig, zu sehen und doch würde man auf geheimnisvolle Art alles wahrnehmen?

Izumi drehte den Kopf, den er nicht hatte, wieder zu Koji, sah mit Augen, die er nicht hatte, wie der Sänger langsam den Arm ausstreckte, die wabernde Dunkelheit vor ihm berührte, sie durchdrang wie einen rauchigen Vorhang. Die Hand verschwand darin und als Nanjo sie wieder zurückzog, war sie nicht mehr leer.

Takuto hätte geweint, hätte er es gekonnt.

Koji betrachtete die lange, blitzende Klinge des Katana und neigte den Kopf leicht zur Seite. Die Dunkelheit schien das Eisen zu fürchten, versuchte nicht, es wieder zu verschlingen sondern mied es.

Obwohl kaum Licht einfiel, glänzte das Schwert und schien aus einem inneren Feuer her zu leuchten.

„Takuto...“ flüsterte der Sänger, mit tränenerstickter Stimme.

 ‚Hier...hier bin ich...sieh doch Koji...ich bin hier...ich bin bei dir! SIEHST DU MICH NICHT? Warum? Warum nur? WARUM?’

Hätte er sprechen können, wären das Izumi's Worte gewesen.

Aber er konnte es nicht.

Hilflos, so hilflos...

Machtlos musste er mit ansehen, wie Nanjo die Klinge auf sich selber richtete, direkt auf sein armes, verwundetes Herz.

Die Spitze des Katana berührte nur leicht den Stoff des Hemdes, glitt hindurch wie durch Wasser.

Takutos Nerven, die er nicht hatte, spielten ihm einen Streich, vermittelten ihm das Gefühl, den eiskalten Stahl auf seiner eigenen Haut zu spüren, wie der Druck langsam verstärkt wurde.

Izumi sah ganz deutlich, wie die Klinge auf Nanjo's Brust einen einzelnen Blutstropfen zutage förderte, innehielt... Koji lächelte noch ein letztes Mal. Er sah in Takuto's Richtung, nicht zufällig, er wusste genau, dass sein Geliebter ihn sah und bei ihm war. Dann...

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